59. Austin: Terminator

1K 115 2
                                    

Ich wusste nicht woher, aber mein Gefühl, das gerade nur noch von der Sorge um Raphael getrieben wurde, führte mich in den Thronsaal.
Ich versuchte nichts anderes zu zulassen, als den Gedanken, dass ich gerade für ihn stark sein musste.

In Wahrheit fühlte es sich an, als sei die Welt gerade unter gegangen und wir hätten das verursacht. Schon als Boris erzählt hatte, dass die Vampire bei der Suche nach uns geholfen hatten, hatte ich mir Sorgen gemacht. Aber nun vermutete ich, dass es bei unserer Gefangennahme niemals in erster Linie darum gegangen war, uns Blut abzunehmen oder zu experimentieren, sondern einfach nur, um ein Ablenkungsmanöver zu haben, um die mächtigsten Vampire aus dem Reich zu locken und die anderen somit umbringen zu können.

Natürlich hatte ich nicht gezählt und bei weitem hatte ich nicht alle Leichen gesehen, doch ich schätzte gut zwei Drittel unseres Volkes war tot. Sie waren abgeschlachtet worden wie nicht einmal Tiere. Es war schrecklich. Aber ich wusste, das war erst der Anfang des großen Leids.

Im Thronsaal angekommen stieß ich auf die meisten Leichen.

Ich hatte Schwierigkeiten, mich fortzubewegen, ohne auf einen Toten zu treten, egal, ob Jäger oder Vampir. Aber ich kämpfte mich durch, um zu Raphael zu gelangen, der mitten im Raum kniete.

Seine Schultern waren zusammen gesackt, sein Kopf hing nach unten, seine Arme lagen kraftlos in seinem Schoß.

Ich wusste, zwischen wem er da kniete, schon bevor ich es mir ansehen konnte. Benedikt und Victoria.

„Raphael", flüsterte ich, um ihn nicht zu erschrecken.

Er reagierte nicht.

Ich sah Benedikt an und mein Herz zog sich zusammen. Es sah nicht so aus, als habe man ihn einfach nur umgebracht. Es sah so aus, als habe man sich viel Zeit genommen, es so schmerzhaft wie möglich für ihn zu machen. Aber Victoria war noch schlimmer zugerichtet als er.

All die Vampire, die hier lagen, hatten wohl versucht, ihr Königspaar zu verteidigen. Erfolglos.

Die Jäger mussten in gewaltiger Überzahl gewesen sein, um unsere Leute so auszumerzen. Oder sie hatten sehr mächtige Kräfte gehabt.

Ich konnte keine weiteren logischen Vermutungen aufstellen. Gerade war das auch das Unwichtigste überhaupt.

Ich näherte mich Raphael langsam an, wie einem schlafenden Raubtier. Dann legte ich meine Hand von hinten auf seine Schulter.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, nur, dass er jetzt Beistand brauchte.

Es war lächerlich, dass ich für ihn da sein wollte und mich selbst kaum zusammenreißen konnte. Aber es war meine Aufgabe, für Raphael da zu sein. Charlie und ich waren doch immer für ihn da gewesen.

Wo Charlie war, wusste ich nicht, aber das änderte auch nichts daran, dass Raphael nicht nur einer meiner besten Freunde war. Ich hatte ihn mehr als sein halbes Leben begleitet. Er mich die ganze Zeit meines Lebens, an die ich mich erinnerte. Er war irgendwie wie ein kleiner Bruder für mich. Und seine Eltern lagen tot neben uns, zugerichtet, offensichtlich gefoltert, gequält.

Raphael bewegte sich kein Stück, kniete auf dem kalten Boden, auf dem sich das Blut seiner Eltern verteilt hatte, und wirkte dabei, als sei er gedanklich gar nicht mehr anwesend.

Etwa eine Viertelstunde tat sich rein gar nichts und ich überlegte schon, ihn hier einfach rauszuzerren, als ich Silas' leise Stimme hörte. „Bleib hier stehen. Wir haben es bald geschafft, dann können wir gehen, okay?"

Ich drehte mich leicht, um mir anzusehen, wie Silas Boris einen kraft spendenden Kuss auf die Wange drückte, als dieser leicht nickte.

Silas atmete tief durch, als er den Weg aus Leichen vor sich sah und Raphael, den er offensichtlich erreichen wollte.

Aber obwohl ich Silas das nicht zugetraut hätte, machte er sich auf den Weg, stieg über all die Toten hinweg, nur um bei Raphael zu sein. Der arme Junge war ja eigentlich schon von kleinen Horrorfilmchen extrem verstört.

Ich wollte gar nicht wissen, was das alles hier mit ihm anrichten würde.

„Raphael" Als Silas bei uns angekommen war und den Namen seines Freundes nannte, hob dieser zum ersten Mal, seit ich hierher gekommen war, den Kopf.

Es war, als hätte man einen Schalter umgelegt.

Raphael erhob sich und dabei rutschte meine Hand von seiner Schulter.

Wenn ich ehrlich war, hatte ich gerade Angst vor ihm. Er wirkte wie ein Terminator.
Er drehte sich steif zu uns um. Ich erkannte keine einzige Emotion in seinem Blick.

Silas wollte ihn an den Arm nehmen, aber Raphael packte sich die Hände seines Freundes, ließ seine Augen dabei rot aufleuchten.

Dass Silas' ebenfalls diese Farbe annahmen hieß entweder, dass Raphael gerade seine Kraft an Silas anwandte, oder dass Raphael Silas' Kraft an anderen anwandte.

Nach einer Zeit ließ er ihn wieder los.

Ich sah, wie Silas ungläubig auf seinen Freund starrte. „Bitte tu das nicht", hauchte er dabei.

Raphael blickte an ihm vorbei, auf die Tür.

Seine blauen Augen hatten jeglichen Glanz, jeglichen Spaß verloren, den er immer in sich trug. Er war zwar 27, doch hatte noch nie erwachsener auf mich gewirkt wie jetzt gerade. So ernst. So emotionslos. So entschlossen.

Silas' Versuche, Raphael von irgendetwas abzuhalten schlugen fehl. Erst, als ich mehrere schlagende Herzen hörte, die auf uns zukamen, begriff ich, was Raphael getan hatte.

Ich ging aus dem Thronsaal zu Boris, schob ihn sanft in die Ecke des Flures. „Raphael hat Vampire hierher gerufen. Ich versuche, deinen Geruch durch mein Blut zu überdecken, okay?"

Boris brachte nur ein zögerliches Nicken zustande.

Ich schnitt mir mit der Kralle in die Hand und schmierte Boris mein Blut auf den Hals, die Wangen und die Stirn, außerdem auf die Brust, dort wo sein Herz war. Nun roch er zumindest nicht mehr so intensiv nach Jäger und hoffentlich überdeckte all das Blut auf dem Boden den Rest.
Denn ich vermutete, es war ein Punkt erreicht, an dem keiner mehr einen Unterschied machte ob gut oder böse. Alle waren nur noch auf Vergeltung aus.

Only YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt