60. Silas: Liebe und Hass

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„Ich kann nicht glauben, dass du das alles ernst gemeint hast" Ich sah Raphael kopfschüttelnd an.

Es war das erste Mal, dass wir wieder miteinander sprachen, seit er alle verbliebenen Vampire über meine Kraft in den Thronsaal gerufen und dort verkündet hatte, dass er als neuer König dafür Sorge tragen würde, dass die Verantwortlichen für diese Schandtaten alles, was sie seinen Leuten angetan hatten, vielfach schlimmer zurückbekommen würden.

Die Vampire waren führungslos, verzweifelt genug gewesen, zuzustimmen ohne etwas zu seiner Beziehung mit mir zu sagen.

Wir alle gemeinsam hatten uns daran gemacht, die Leichen wegzuschaffen und ihnen ein Begräbnis zu verschaffen. Die Vampire hatten wir verbrannt und jeder hatte seine eigene Urne bekommen und einen Platz in einem extra eingerichteten Raum.

Raphael hatte den gesäuberten Thronsaal dafür genutzt, Vitrinen einrichten zu lassen für all die Opfer des Attentats, als Art Gedenkstätte.

Der Gedanke an sich war ja wirklich schön, aber alles andere, was in seinem Hirn gerade so abging, war eher das Gegenteil davon.

Er hatte sich geweigert, die Jäger ebenfalls zu bestatten und hatte vor, sie in Einzelteilen an die jeweiligen Familien wieder zurückzuschicken. Ich verstand, dass er keine Fürsorge für die Täter übernehmen wollte, aber er konnte sie doch nicht so respektlos behandeln. Obwohl sie wahre Monster gewesen waren, fand ich, dieser Umgang mit ihren Leichen gehörte sich nicht.

Aber Raphael hatte nicht nur seine Gefühle abgeschaltet, sondern auch sein Hirn. So kam es mir zumindest vor.

Es hatte fast eine Woche gedauert, uns um die Leichen zu kümmern.

Gerade versuchten alle, das Blut weg zu waschen oder zumindest darüber zu streichen, sodass von dem Attentat nur noch die Erinnerungen daran zurückblieben.

Außerdem ließ Raphael einen neuen Thronsaal einbauen. Es wunderte mich, dass die Leute auf ihn hörten. Vermutlich sahen sie ihn als letzte Möglichkeit, als einzige Hoffnung, falls so etwas nochmal passieren würde.

Er hatte sie immerhin gedanklich beeinflusst, um sie alle in den Thronsaal zu bekommen, und das ohne sie auch nur anzusehen. Okay, dazu hatte er meine Kraft auch genutzt, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er dazu in der Lage war.

Austin hatte Boris während Raphaels Selbsternennung zum neuen König nach hause gebracht, ihn bei den anderen gelassen und war mit Amy und Claire zurückgekommen.

Keiner von ihnen hatte fassen können, was hier passiert war, aber alle hatten gemeinschaftlich geholfen, sich um die Toten zu kümmern.

Raphael hatte seit dem Attentat nicht mehr geschlafen und ich, wenn es hochkam in dieser ganzen Woche insgesamt vielleicht 10 Stunden. Trotzdem funktionierte meine Denkleistung wohl noch besser als seine.

Er ging gerade durch den ehemaligen Thronsaal und wollte überprüfen, dass mit den Urnen so verfahren worden war, wie er sich das vorstellt hatte. Ich lief ihm hinterher, obwohl er mich nicht beachtete.

„Hei!" Ich legte die Hand auf seine Schulter, doch zog sie sofort wieder weg, als hätte ich mich verbrannt.
Nicht, weil es so warm gewesen, war, nein sondern, weil er eiskalt war.

„Raphael", hauchte ich geschockt.

Er blieb vor den Urnen seiner Eltern stehen und starrte durch das Glas hindurch auf das goldene Metall der Behältnisse. Er war zwar biologisch schon vorher Waise gewesen, aber nun hatte er auch noch seine Zieh-Eltern verloren. Zudem war Charlie nicht mehr aufzufinden und keiner hatte den Hauch einer Ahnung, wo er war. Er war vermutlich der einzige, der Raphael gerade bewusst machen konnte, was richtig und was falsch war. Mir hörte er nämlich nicht zu.

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