90. Chad: Loslassen

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Ich hörte ein Klopfen an der Zimmertür, antwortete nicht, aber die Person kam trotzdem rein.

Es war Boris.

„Sorry, ich wollte nur ein bisschen was zum Anziehen holen. Bin gleich wieder weg", meinte er.

Ich sah ihn kritisch an, weil das hier ja eigentlich seines und Charlies Zimmer war und ich nur zu Besuch da war.

„Ziehst du zu Silas rüber?", hakte ich nach.

Er nickte. „Ich penne ja eh jede Nacht da. Aber seine Klamotten sind mir zu klein und ich will dir nicht jeden Morgen auf den Sack gehen müssen. So hast du auch ein bisschen Platz im Kleiderschrank"

Ich schüttelte den Kopf und nickte zur kleinen Tasche, in der alles war, was ich aus meiner Wohnung mit Anni mitgenommen hatte. „Ich komme klar, danke"

Boris warf mir ein trauriges Lächeln zu, packte sich ein paar Klamotten aus dem Schrank in einen Wäschekorb.

Mir fiel auf, dass er lange vor ein paar Klamotten stand, die fast ausschließlich dunkel waren und ihm mit Sicherheit viel zu groß. Wohl Charlies.

Boris entschied sich dagegen, welche von ihm zu nehmen, schloss den Schrank wieder und sah dann zu mir.

„Ich weiß, das alles ist gerade nicht so einfach für dich. Wenn du reden möchtest, bin ich gerne für dich da..."

Ich nickte bloß, seufzte ein „Danke" und Boris ging wieder.

Es dauerte nicht lange, da wurde ich nochmal in meiner Tat gestört, vor mich hinzugammeln. Diesmal von Luzifer, der ungefragt reinkam, die Tür hinter sich schloss und zu mir schlenderte.

Ich lag schon im Bett, hatte mein Smartphone in der Hand, weil ich lange auf Annis Kontakt gestarrt und mich gefragt hatte, ob ich sie anrufen sollte. Nur, um ihre Stimme zu hören und zu wissen, dass es ihr gut ging. Mehr nicht.

Statt vor dem Bett stehen zu bleiben, warf Luzifer sich mitsamt Schuhen darauf und kroch zu mir, sodass er in mein Handy sehen konnte. „Hübsch deine Ex"

Ich verdrehte die Augen, machte mein Handy aus und legte es zur Seite. „Du hast auch schon mal mehr Taktgefühl besessen" Ich schob ihn von mir weg und er machte keine Anstalten, sich dagegen zu wehren, auch wenn ich mir einbildete, eine leichte Enttäuschung in seinem Blick gesehen zu haben.

„Charlie bringt dich um, wenn er erfährt, dass du mit Schuhen in seinem Bett warst" Nüchtern sah ich Luzifer an.

Er lachte leicht. „Das bezweifle ich. Außer er ist ein Erzengel und hat eine Engelsklinge. Da er beide Kriterien nicht erfüllt, kann er mir nichts anhaben"

Trotzdem zog er, während er das sagte seine Schuhe aus und die Hose dann noch gleich dazu.

„Was soll das jetzt schon wieder werden?", fragte ich genervt.

„Keine Lust, mir mit dem stinkenden Jäger das Sofa zu teilen. Und so können wir kuscheln" Er grinste mich beim letzten Satz an und zwinkerte anzüglich.

Dann richtete er sich leicht auf und zog sich das Shirt aus.

Ich sah ihn ungläubig an. „Du denkst doch nicht ernsthaft, nach allem, was passiert ist, würde ich dich freiwillig anfassen oder?"

In meinem Kopf hatte der Satz nicht ganz so fies geklungen, wie ausgesprochen. Aber es war nun mal Tatsache, dass er in Jays Körper war, dem Körper meines ehemals besten Freundes und des Jungen, der meinen Bruder auf dem Gewissen hatte und jetzt in seinem Körper war.

Luzifer seufzte deshalb nicht verletzt, sondern erschöpft. „Willst du wissen, was dein Problem ist, Chester?"
Er sah mich an, zog die Augenbrauen hoch; ich verschränkte nur die Arme, da er es mir ohnehin sagen würde.

„Du denkst zu viel nach. Du suchst immer jemandem, dem du die Schuld zuschieben kannst, damit es für dich einfacher ist, das alles zu verarbeiten, aber in Wahrheit machst du es dadurch nur schlimmer. Denn irgendwann stellst du fest, dass keiner was dafür kann und dann gibst du dir selbst die Schuld und das, obwohl du der Letzte bist, der irgendeines der bestehenden Probleme verursacht hat."

„Was soll ich denn sonst machen?", zickte ich beleidigt.

Immer machte ich alles falsch. Nie war jemand zufrieden mit mir. Nie war ich jemandem genug. Und ehrlich gesagt hatte ich keine Lust mehr auf die ganze Scheiße. Ich hatte es satt, einfach alles.

Bevor Luzifer antworten konnte, redete ich weiter. „Immer, wenn ich gerade denke, es kann nicht mehr schlimmer werden, setzt irgendwer nochmal einen drauf. Immer und immer wieder. Ich kann einfach nicht mehr, Lu, okay? Ich bin nur ein Mensch und ich habe keine unbegrenzte Kraft, an so vielen Fronten auf einmal zu kämpfen. Ich bin müde, ich habe Angst, ich will einfach, dass es vorbei ist"

Wieso ich so ehrlich zu ihm war, wusste ich selbst nicht. Vielleicht weil er mir bisher auch schon sehr viel von sich und seinen Gefühlen erzählt hatte. Weil ich irgendwie -und fragt mich nicht wieso- wusste, dass ich ihm vertrauen konnte. Dass er mich nicht fallen lassen würde...

„Dann hör auf, daran festzuhalten" Er musste nur zu meinem Handy sehen und ich wusste, was er meinte.

Einer meiner anhaltenden Schmerzpole: Anni.

„Das ist nicht so leicht", murmelte ich.

Ich fand es ja auch nicht toll, dass ich so an ihr hing, während sie mich wahrscheinlich lange vergessen hatte. Während sie weiter gemacht hatte und ich hier feststeckte und mich selbst verlor.

„Du könntest aufhören, dir ihr Profilbild anzusehen oder sie über diese seltsamen Apps zu stalken. Wenn du aufhörst, an sie zu denken, können dir die Gedanken an sie auch nicht mehr wehtun. Du kannst sie nicht mehr vermissen. Und dann kannst du damit abschließen"

„Das sagt genau der Richtige, weißt du?", gab ich gereizt zurück. „Du redest von loslassen und selbst haderst du seit was weiß ich wie vielen Jahrtausenden mit denselben Problemen"

Luzifer schnaubte leicht. „Du bist ein Mensch, Chester. Du hast nur dieses Leben. Solange ich nicht ins Nichts komme, habe ich die Unendlichkeit, um meine Zeit mit Trübsalblasen zu verschwenden"

Das ergab durchaus Sinn. Das wusste ich. Trotzdem konnte ich nicht einfach einen Schalter umlegen und meine Gefühle für Anni in die nächste Mülltonne kicken. So einfach war das nicht. Nicht bei mir.

„Vielleicht würde Ablenkung dir gut tun...", schlug Luzifer vor, rutschte dabei an mich heran.

„Mit dir?" Ich klang ungläubig.

Er zuckte mit den Schultern. „Siehst du sonst noch jemanden, der sich erbarmt?"

„Danke, Arschloch", brummte ich beleidigt.

Dachte er denn, es war hilfreich, meine Gefühle zu verletzen? Anscheinend schon, denn er lachte leicht und rutschte nun so nah an mich heran, dass er meine Seite mit seinem Oberkörper berührte.

„Du hältst zu sehr an den alten Dingen fest, Chester. Lass dich mal auf was Neues ein" Während er das sagte, strich seine Hand auch schon über meinen Bauch.

Ich zuckte zurück. „Du bist total kalt", stellte ich fest.
Eigentlich wollte ich mich dadurch beschweren, aber es klang eher besorgt und er grinste nur unbekümmert. „Wärm mich doch auf."

Er nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und ich starrte darauf.

Seine Hand legte sich langsam wieder auf meinen Bauch und strich erneut nach unten. Immer weiter nach unten. Ich sah ihm dabei nur ins Gesicht, während seine Finger in meiner Hose verschwanden.

Ich hielt den Atem an, als ich seine Kälte da unten spürte und mir trotzdem schlagartig heiß wurde.

Dass mich das alles irgendwie anmachte, zeigte, wie untervögelt ich war. Ich hatte es nötig, das war der einzige Grund, weshalb ich zuließ, dass mein Hirn abschaltete und mein Körper die Kontrolle übernahm.

Only YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt