5. Boris: Angst

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Ich sah Austin traurig hinterher und legte mein Besteck zur Seite, als er weg war, seufzte einmal schwer durch und ließ mich an die Lehne des Stuhls sinken.

Charlie legte seine große Hand auf meine und drückte sie leicht.
Er wusste, wie nahe mir das alles ging. Jays Tod, dass Austin dafür verantwortlich war und wie wenig er das verarbeiten konnte.

Ein paar Monate lang hatte ich Hoffnung gehabt. Es brauchte nur Zeit, hatte ich mir eingeredet. Nun ging das schon seit drei Jahren so und es war keine Besserung in Sicht.

Meinen besten Freund so zu sehen war schrecklich, aber schlimmer war eigentlich, dass ich ihn nicht trösten konnte, weil er bei jedem Versuch abblockte und meinte, ich würde das ohnehin nicht verstehen. Und er hatte recht. Ich konnte nicht verstehen, wieso er Jay umgebracht hatte.

Klar, die Gründe lagen nahe, aber trotzdem... Ich würde Charlie niemals umbringen, für nichts auf der Welt.

Aber genau deshalb verstand ich Austins jetzige Gefühle genau.

Ich konnte zwar nicht nachvollziehen, wieso er Jay getötet hatte, doch ich konnte mir vorstellen, wie es war, ohne den jemanden leben zu müssen, den man liebte. Ich hatte mir das oft genug vorgestellt, als das mit dem Auffinden von ausgebluteten Vampiren angefangen hatte.

Die Menschen hatten angefangen, sich auszurüsten und auf die Vampire loszugehen. Sie konnten sie nicht töten, sie wussten gar nicht, was genau sie da taten... Sie stachen einzelne Vampire meist in großen Gruppen und aus dem Hinterhalt ab, ließen sie ausbluten und dachten, sie seien tot. Doch das waren sie nicht. Ihre Seele war ab dem Moment, in dem ihr Herz aufhörte zu schlagen, in ihrem Körper gefangen.

Etwa zwei Stunden lang jagten Vampire dann alles was ging, ohne Hirn und Verstand, so entstanden auch ein Haufen menschlicher Leichen, ehe die Vampire die Kontrolle über ihre Körper verloren, der fortan zu verwesen begann, doch sich niemals mehr zersetzen würde, solange die Seele darin gefangen war.

Alleine, wenn ich mir vorstellte, wie so etwas Charlie passieren könnte... Damals nach Henrys Entführung war es fast so weit gewesen, es hatte sich nur noch um Minuten gehandelt... Und nun hatten wir einen Haufen blutleerer Vampirleichen, die in ihrem Reich gelagert wurden und keiner hatte eine Ahnung, wie man ihnen helfen konnte.

Nur Gefährtenblut konnte sie befreien, aber dazu musste man die Gefährten erstmal finden und woher sollte man denn wissen, wer der richtige war?

Es war alles so kompliziert und grausam. Ich war einfach nur froh, dass dieses Risiko für Charlie nicht bestand, solange er mein Blut bekam.

Es war quasi unmöglich für ihn zu sterben, unter der Bedingung, dass er mein Blut regelmäßig konsumierte. Klar, wir waren Gefährten und mein Blut wurde Teil seines Organismus, weshalb uns jede seiner Rationen auch immer noch enger zusammenschweißte, aber allein wegen der Zellatmung und dem Stoffwechsel war es besser für Charlie, ihm regelmäßig neues Blut zukommen zu lassen, das ihn immer stärker und stärker machte. Doch wir waren der Einzelfall. Bei allen anderen war das nicht annähernd so einfach und von Raphael und Silas musste ich wohl gar nicht erst anfangen.

Charlie und ich wollten helfen so gut wir konnten und besuchten Benedikt deshalb, sowie gestern, regelmäßig, um uns nach der Lage zu erkundigen.

Jedes Mal wurde ich alleine für meine Existenz fast von den Blicken der Vampire erdolcht, doch schon ziemlich am Anfang hatte Charlie klargemacht, dass er nicht zulassen würde, dass man mir auch nur ein Haar krümmte. Daher beließen die Vampire es bei ihren Blicken und dem Lästern, da sie so viel Respekt vor Charlie und seiner Liebe zu mir hatten.

Für mich war das okay. Ich hatte keine Angst, wenn ich dort war, denn Charlie hielt mich immer in Griffnähe bei sich.

Ich hatte eher Angst, wenn Charlie alleine dort oder sonst wo war.

Ich hatte allgemein Angst. Aus dem einfachen Grund, dass ich sah, was noch für Massaker auf uns zukommen würden, jedes Mal, wenn ich die Augen schloss.

Es waren so viele davor, zu leiden, zu sterben oder Leute zu verlieren, die sie liebten. Keiner sollte so leben, in Angst und Schrecken, keiner hatte das verdient, obwohl alle bei weitem nicht perfekt waren. Aber das war nicht wichtig. Man musste nicht perfekt sein, dafür war man menschlich. Und ich sah auch Vampire als menschlich an, denn ich hatte Kims Aufzeichnungen gelesen und sie war die einzige Jägerblutige, mit der ich einer Meinung war.

Vampire waren keine Monster. Nein, die die sie jagten und folterten, waren welche. Und es brach mir das Herz, dass es so weit gekommen war.

„Wir bekommen das schon hin", als ich Charlies tiefe Stimme hörte, kam ich mit meinen Gedanken wieder in der Realität an und sah zu ihm.

Er konnte spüren, wie ich mich fühlte. Dieses Gefühl zu ersticken... Das hatte ich schon so lange nicht mehr gehabt. Zuletzt in der dieser Stärke vor Kaydens Tod. Dann nochmal vor Jays Tod. Ich wusste nicht, wer diesmal sterben würde. Doch ich hatte Angst. Denn seit Jahren hatte ich einen sich wiederholenden Traum, von einer Person, bei der ich die Gewissheit hatte, dass sie so sterben würde. Silas. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es bald soweit war.

Er wollte davon nichts hören. Er hatte auch genügend Probleme mit Raphael, der seit der Abweisung seines Volkes ziemlich mit sich selbst zu kämpfen hatte.

Gerade lief alles schief, was schief laufen konnte und es war seltsamerweise ausgerechnet Charlie, der uns noch irgendwie ein Stückchen Hoffnung machte. Zumindest mir.

Ich wartete geduldig, bis alle mit dem Essen fertig waren.

Silas und Raphael waren heute mit Küchendienst dran, daher konnte ich danach mit Charlie auf unser Zimmer gehen.

Sobald er die Tür hinter sich schloss, fiel ich ihm um den Hals.

Er stolperte einen Schritt nach hinten, doch hielt mich fest. „Du musst keine Angst haben. Ich bin immer an deiner Seite, Boris. Zusammen schaffen wir alles, hörst du?"

Er sagte das so oft, dass es beinahe einer Gehirnwäsche gleichkam und es veranlasste mich zum leichten Nicken.

Ich wusste, dass er mitbekam, wie schlecht es mir nachts wieder ging und dass er einen Teil meiner Gefühle spüren konnte.

Er fand das, was er ab bekam durch unsere Gefährtenverbindung ja schon schlimm, aber es war nur ein Windhauch in einem Tornado im Vergleich zu der Intensität meiner Gefühle.

„Versprich mir nur, mich nie zu verlassen", hauchte ich an seinen Hals.

Ich wusste, dass es sein Tod war, mich zu verlassen, weil er mein Blut brauchte, und ich wusste, dass er mich liebte und mich nie mehr allein lassen würde, doch ich sagte es ihm jeden Tag, weil ich das Gefühl hatte, jeden Moment, einfach alles zu verlieren.

Charlie schloss mich fester in seine starken Arme.

Ich fühlte mich immer so sicher bei ihm. Wir waren einfach füreinander geschaffen.

„Ich werde dich niemals verlassen. Versprochen", versicherte er mir leise, aber gut verständlich und gab mir einen Kuss auf den Kopf.

Ich hob das Gesicht, schloss die Augen und neigte meinen Kopf so, dass er die Bewegung von eben einfach nur wiederholen musste und auf meine Lippen treffen würde.

Im nächsten Moment spürte ich auch schon, wie er meiner stillen Bitte nachging, doch leicht lächelte, als er dies tat.

Ich öffnete die Augen, um mir anzusehen, was denn so lustig war.

In diesem Moment strich sein rauer Daumen über meine Wange.

„Ich verehre dich, Boris", raunte er mir zu, ließ seine Stirn an meine sinken.

Sein Glück, dass er mich festhielt, sodass ich fast so groß war wie er, sonst würde er sich jetzt bestimmt die Rückenschmerzen seines Lebens holen, denn wir blieben einfach so stehen und genossen die Anwesenheit des jeweils anderen.

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