71. Raphael: Formel

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Ich ging als erster wieder aus der Abstellkammer, während Silas sich noch die Haare richten musste, die ich zugegebenermaßen ziemlich zerstört hatte.

Dieser Kuss war wirklich der Wahnsinn gewesen. Am liebsten hätte ich gar nicht mehr damit aufgehört, seine Lippen mit meinen zu liebkosen. Aber es gab wichtigeres.

Es war an der Zeit, dass ich endlich erwachsen wurde. Dass ich tat, wofür ich geboren war.

Man sah ja, wohin mein Egoismus der letzten Jahre geführt hatte. Ich würde nicht zulassen, dass noch mehr leiden mussten. Silas sollte die letzte Person sein, die meinetwegen Schmerz erfuhr.

Die Trennung machte mir ja auch keinen Spaß, im Gegenteil. Ich hasste es, das tun zu müssen. Aber obwohl es nicht das Beste für mich war und ganz sicher auch nicht das Beste für Silas, war es das Beste für alle anderen.

Nachdem meine Eltern und so viele andere Vampire ausgemerzt worden waren, lag es an mir, für Vergeltung zu sorgen. Silas sollte all das nicht miterleben müssen. Er sollte nicht an meiner Seite sein, wenn ich Taten beging, für die er mich verabscheuen würde. Denn das hatte ich vor. Das war das Einzige, was mich noch antrieb.

„Können wir dann anfangen?", fragte Luzifer mich leicht genervt.

„Wieso? Hast du einen vollen Terminkalender?" schnaubte ich.

Er sah mich vielsagend an und verdrehte dann die Augen. „Ich hab einfach keine Lust mehr auf diesen Kindergarten hier. Außerdem muss ich mit einem meiner Brüder reden, und das bald"

Der einzige Grund, warum er mir half, war, weil er selbst etwas mit den Engeln zu besprechen hatte. Ich hatte ja darauf plädiert, dass wir Vampire sein Volk waren, da er uns so quasi erschaffen hatte, aber er meinte, es sei ihm egal, wenn wir nur ein Haufen Versager wären, die nicht auf sich selbst aufpassen konnten. Er wollte einfach nur etwas mit den Engeln regeln. Ich ging von einem Blutbad aus. Mal sehen.

Silas kam nun ebenfalls in den Flur. Er sah so fertig aus, so als sei sein Leben vorbei. Ich wollte ihn einfach nur in den Arm nehmen und küssen, bis er wieder sein hübsches Lächeln lächeln konnte, bis seine grünen Augen dieses freche aber fürsorgliche Funkeln zurück hatten, in das ich mich verliebt hatte. Aber ich durfte nicht.

„Wenn das alles hier vorbei ist...", sagte Silas leise zu mir, als er neben mir stand.
Ich blickte fragend zu ihm runter und er sah mich überraschend fest an. „...dann will ich dich nie wieder sehen"

Ich schlucke hart, aber nickte zustimmend.

Das war ja auch mein Plan gewesen, doch es ausgesprochen von ihm zu hören, war dann noch nochmal eine Nummer härter.

„Toll, wenn ihr den Gefühlskram jetzt geklärt habt, können wir ja zum wichtigen Teil übergehen", meinte Luzifer so begeistert, wie es für seine Verhältnisse nun mal ging.

Ich kannte ihn gerade einen Tag, doch wusste eigentlich schon ziemlich viel über ihn. Dass er narzisstisch, arrogant, egoistisch und rechthaberisch war. Das ging mir mächtig auf den den Sack. Aber ich war davon überzeugt, ihn dazu zu bringen, dass er im Notfall an unserer Seite kämpfen würde und das konnte doch nur ein Pluspunkt sein, oder?

„Jetzt oder nie", meinte Silas wenig begeistert.

„Toll, wir brauchen Blut", begann Luzifer. „...und eine Silberschale..."

„Boris!", brüllte Silas plötzlich.

Sofort kam sein Cousin angerannt. „Was ist los?" Er wirkte, als sei er bereit, mir jeden Moment eine reinzuhauen. Sollte er es doch versuchen.

„Hol mal bitte die Silberschale, die wir von Oma aus dem Keller haben"

Boris sah mich aus zusammen gekniffenen Augen an und ging dann Silas' Bitte nach.

„Was noch?", fragte ich Luzifer.

Wäre ich mir nicht sicher, dass er wirklich mit den Engeln reden wollte, würde ich ihm kein Stück vertrauen. Aber er brauchte ihr Wissen wohl genauso sehr wie wir.

„Blut von einem Menschen mit reinem Herzen. Er muss aber von allen himmlischen Wesen unberührt sein."

Ich sah ihn unverstehend an.

Er verdrehte die Augen. „Kein Jäger."

„Chad!", brüllte Silas.

Auch er kam, nicht angerannt, aber zumindest schnell gelaufen. „Was?"

„Wir brauchen dein Blut"

Chad zog die Augenbrauen zusammen. „Was? Wieso?"

„Keine Ahnung, der Teufel will dein Blut, dann bekommt der dein Blut"

Wow, Silas konnte ja fast so ein Arsch sein wie ich. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Und ich hasste es, für diese Veränderung verantwortlich zu sein.

„Wir gehen einer Formel nach, um mit den Elohim in Verbindung zu treten, ohne dass einer von uns sterben muss", erklärte ich Chad.

„Mhm", brummte er. „Und wieso dann mein Blut? Ich hab das unbesonderste Blut, das man nur haben kann"

„Da hast du recht", stimmte Luzifer zu. „Deshalb ist es perfekt dafür, was wir vorhaben. Du kannst natürlich nein sagen, aber in diesem Fall würde ich dir einfach die Kehle aufschneiden und wir hätten, was wir wollen. Oder du sagst ja und wir fügen dir nur eine nicht lebensgefährliche Wunde zu"

„Das klingt ja nicht so, als hätte ich eine Wahl, wenn ich noch ein bisschen Leben will", stellte Chad fest und verschränkte die Arme, während er Luzifer ansah, als sei er... Naja der Teufel höchstpersönlich.

Boris kam mit der Schale zurück und überreichte sie uns.

Silas murmelte ein „Danke" und schickte Boris wieder weg, wohl damit er in Sicherheit war.

„Habt ihr einen Garten?"

Ich ging voran, ohne Luzifer verbal zu antworten, Silas folgte ihm und Chad Silas.

Im Garten nahm der Teufel mir die Schale ab, stellte sich ungefähr in die Mitte des Grasbereichs und winkte uns zu sich.

Er schnipste mit dem Finger und hatte plötzlich eine Feder in der Hand.

„Was ist das?", wollte Chad wissen.

„Eine Feder meiner Flügel" Luzifer tat so, als sei es nichts, legte sie in die Schale.

Dann machte er eine Handbewegung und zündete die Feder an.

„Blut", sagte er bloß und winkte Chad zu sich.

Dieser trat unsicher an den Teufel heran, der ihm mit einer einfachen Bewegung in die Hand schnitt und sie zu einer Faust formte, sodass das Blut in die Schale auf die Asche der Feder tropfte.

Chad zischte dabei und verzog das Gesicht.

„Silas, Raphael, kommt her!"

Nachdem Luzifer von Chad bekommen hatte, was er wollte, schob er ihn achtlos zur Seite und setzte sich im Schneidersitz vor die Schale.

Silas und ich platzierten uns in derselben Position wie Luzifer um die Schale herum.

Der Teufel hielt uns seine Hände hin und Silas und ich sahen kritisch darauf.

Er verdrehte die Augen. „Mir gefällt es auch nicht, mit euch Menschen Händchen zu halten, aber es muss nun mal sein"

Wir legten also die Hände in seine und nahmen auch unsere gegenseitig, als Luzifer das forderte.

Er schloss die Augen und begann in einer fremden Sprache irgendetwas zu brabbeln.

Silas sah mich an, mit einem Blick, der mir klar machen sollte, das all das total verrückt war.

Aber nach kurzer Zeit da sah ich, dass sich sein Blick änderte. Er wurde müde und ich auch hatte Schwierigkeiten damit, die Augen offen zu halten.

Ehe ich so richtig begriff, was hier passierte, fühlte es sich so an als würde ich plötzlich total leicht werden und dann war alles nur noch weiß.

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