74. Chad: Verbündete

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Erst als Silas wieder aufgehört hatte zu weinen, hatte ich ihn losgelassen.

Er hatte sich für den Trost bedankt und mich gebeten dafür zu sorgen, dass er den Rest des Abends seine Ruhe hatte. Dann war er die Treppen hoch und wahrscheinlich in sein Zimmer gegangen.

Die Anderen waren nach kurzer Zeit, nachdem wir heute Mittag in den Garten gegangen waren, raus gekommen, doch auf meine Bitte hin wieder ins Wohnzimmer. Von dort aus hatten sie sowohl Silas' Verabschiedung von Raphael mitbekommen, als auch meinen Versuch, den Jungen zu trösten. Jetzt, wo er weg war, konnten sie gefahrlos zu mir kommen und mich fragen, was passiert war, aber ich hatte ja selbst keine Ahnung.

Wir diskutierten, bis eine amüsierte Stimme erklang und ich mich ziemlich erschrocken umdrehte. Da lehnte er dann, der Teufel in Person lässig und mit verschränkten Armen an der Wand, während er zu uns sah.

„Meine Präsenz hat Silas und Raphaels Seelen mit in die himmlische Ebene gezogen, wo uns Michael abgefangen hat. Wir mussten gar nicht, wie eigentlich geplant, bis zu den Elohim, weil er uns geholfen hat. Allerdings..." Er stieß sich von der Wand ab und schlenderte zugegebenermaßen geschmeidig zu uns. „... hat er mir klar gemacht, dass er der Welt 6 Monate Zeit gibt, die Differenzen zwischen Menschen, Vampiren und Jägern zu klären, weil er sonst die Apokalypse einleitet, die zur Neuschöpfung der Erde führen soll..."

„Als ob einer dir glauben würde", schnaubte Boris, verschränkte die Arme und sah Luzifer abwertend an.

Dieser zog die Augenbrauen hoch, so als fühlte er sich von einem Schmetterling angegriffen und kapierte nicht, was diese sinnlose Aktion sollte. „Was gibt dir den Anlass, mir nicht zu glauben? Was hätte ich davon, euch zu belügen?"

„Keine Ahnung, aber du bist der Teufel!", begründete auch Mara.

Er begann zu schmunzeln. „Gut, Kinder, dann erzählt mir doch mal, was ihr über mich wisst. Nur die Fakten."

Es blieb still. Lange Zeit, bis Boris zu reden begann. „Dass du neidisch warst auf die Menschheit und ihr deshalb geschadet hast und dass du dann von Gott verbannt wurdest und Michael dich mit einem Arschtritt in die Hölle befördert hat"

Sehr biblisch formuliert, Boris... Am liebsten würde ich mir einfach auf die Stirn klatschen, aber das schien hier gerade keinen Platz zu haben.

„Nun ja, das ist richtig", stimmte Luzifer zu. „Aber sag mir doch mal, als du jung warst und eifersüchtig auf Silas, weil er an seinem 8ten Geburtstag deiner Meinung nach mehr Geschenke und Aufmerksamkeit bekommen hat als du, was hast du da gemacht?"

Luzifer sah Boris herausfordernd an und Boris kniff nur die Augen zusammen.

„Genau", stimmte Luzifer zu. „Du hast das Geschenk, auf das er sich am meisten gefreut hat, so versteckt, dass bis heute keiner weiß, dass diese Figur im Heizkörper des Dachbodens steckt. Im Grunde hab ich nichts anderes gemacht. Also wieso verurteilt man mich dafür und dich nicht?"

„Ich war noch ein Kind", plädierte Boris fest.

„Ich auch. Ich war zu diesem Zeitpunkt der jüngste Engel der Schöpfung. Ich war der Fußabtreter meiner Brüder. Vater hat mich immer beschützt, weil ich einfach zu klein war, um mich zu verteidigen. Aber dann hat er die Menschen erschaffen und sich nur noch um sie gekümmert und ich? Tja ich hatte die Arschkarte, denn alle wussten, dass ich bis dato Vaters Liebling war und da ich nie gelernt hatte, mich selbst zu verteidigen, hatte ich sehr viel einstecken müssen. Und so sehr ich es auch hasse, das zu sagen, meine Reaktion darauf, der Trotz und die Zerstörungswut, waren nur menschlich"

Daraufhin hatte keiner mehr etwas zu sagen. Vielleicht auch, weil er gerade so angespannt wirke, dass man Angst hatte, er würde einen in die Hölle schleifen und dort Foltern, wenn man Einwand erhob.

„Außerdem", sprach Luzifer dann weiter. „War ich da noch jung. Umgerechnet und auf eure Rechnung von Zeit übertragen war ich damals 5 Jahre alt. Und ihr wollt mir das übel nehmen? Ich hab dafür Billiarden von Jahren in der Hölle geschmort. Ich habe für meine Sünden bezahlt. Und jetzt stehe ich hier und muss euch Vollidioten helfen, die Welt zu retten, die ihr in den Abgrund gestürzt habt und mir die Schuld dafür gebt. Aber nein, nicht ich habe den ersten Stein geworfen. Ich bin der, der ihn abbekommen hat"

Ehrlich gesagt hatte er mich durch diese Rede mehr als sprachlos gemacht. Er warf unser Weltbild komplett durcheinander. Für uns waren Engel das Gute und der Teufel das Böse. Wenn man sich nicht mehr darauf verlassen konnte, worauf denn dann? Was war richtig und falsch? Würde ich in die Hölle oder in den Himmel kommen? Was sollte ich tun?

„Du badest ja quasi in Selbstmitleid" Als Dale das sagte, sah ich ihn erschrocken an.

Luzifer gab ein nicht sehr freundliches Knurren von sich und machte einen bedrohlichen Schritt auf Dale zu.

Ich stellte mich schneller vor meinen Bruder, als ich überhaupt darüber nachgedacht hatte. „Krümme ihm ein Haar und du hast ein Problem mit mir"
Ich wusste, im ersten Moment war diese Drohung wohl ziemlich unbeeindruckend. Luzifer sah das genauso.

Er lachte höhnisch auf. „Soll ich jetzt Angst vor dir haben? Selbst ohne meine richtigen Kräfte muss ich nur mit dem Finger schnippen und du fällst tot um. Und dann ist dein Bruder als nächstes dran und dann deine süße Anni..."

Als der das sagte, brannte irgendetwas bei mir durch, ich ging auf ihn zu und keine Ahnung, was mich da ritt, aber ich packte ihn und presste ihn an die Wand.

„So wie ich das sehe, laberst du uns aus einem Grund voll", sagte ich, klang dabei so gereizt wie noch nie zuvor. „Du brauchst unsere Hilfe. Und wenn du erwartest, diese zu bekommen, solltest du aufhören, hier den großen Macher zu spielen und die Karten auf den Tisch packen. Was willst du? Wieso interessiert sich einer wie du für den Fortbestand der Welt? Der Menschheit? Du hasst uns"

Er hatte nicht wirklich Angst im Blick, eher die Erkenntnis, dass Respekt vor mir und meinen Freuden angebracht war. Und das nicht aufgrund körperlicher Attribute, sondern bei mir zumindest wegen kognitiver Fähigkeiten.

Luzifer legte seine Hände auf meine Fäuste, die sein Shirt umklammerten und ihn am Kragen gegen die Wand drückten. Mein Griff lockerte sich leicht.

Er schob mich bestimmend, aber nicht schmerzhaft von sich weg, zog sich die Kleidung zurecht und antwortete dann, nur mir in die Augen sehend. „Auf mir liegt ein Fluch. Wenn ich diesen breche, habe ich die Möglichkeit, wieder in den Himmel zu kommen. Eine Bedingung dazu ist, zu verhindern, dass Michael es für nötig hält, die Neuschöpfung herbeizuführen."

Nicht wirklich ein selbstloser Grund, die Welt zu retten, aber wenigstens ein Grund...

„Gut", sagte ich. Ich hatte meine eigene Stimme noch nie so ernst erlebt. „Ich glaube dir. Aber wenn du irgendwem ein Haar krümmst und wenn es nur eine Fliege ist, sorge ich dafür, wie auch immer, dass deine Brüder deinen Arsch wieder in die Hölle befördern und du dort bleibst"

Er schnaubte leicht. „Glaub mir, die Hölle ist das Paradies im Gegensatz zu dem Ort, an den ich komme, wenn ich es nicht schaffe, meinen Fluch zu brechen."

Somit hatten wir also einen ziemlich mächtigen und auch weisen Verbündeten. Die Frage war halt nur wofür. Wie wollten ein paar unausgebildete oder kraftlose Jäger und nicht anwesende Vampire zusammen mit dem Teufel in Person einen Krieg verhindern, von dem wir nicht wussten, auf welchen Ebnen er stattfand, wo und vor allem gegen wen genau? Das alles war nicht wirklich erfolgsversprechend. Aber es war besser als die Alternative, die Welt einfach so untergehen zu lassen. Die Apokalypse klang für mich nämlich ganz und gar nicht nach Spaß.

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