Obwohl Chad schon lange weg war, stand ich noch in der Kälte herum und sah ihm hinterher.
Ich musste nur die Kraft finden, über seine Wort hinwegzukommen und ihm hinterher rennen. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr begriff ich, dass das nicht passieren wüdre. Nicht so schnell.
Ich war Chad nicht böse für seine Worte. Ich wollte ihm nicht hinter, weil ich mich mit ihm aussprechen wollte, sondern, weil ich Angst hatte, er würde Scheiße bauen.
Was, wenn er sich in Schwierigkeiten brachte? Was, wenn er jemandem wehtat? Was, wenn er sich selbst wehtat?
Das könnte ich mir nie verzeihen.
Es war mir egal, dass er wohl nicht mein richtiger Bruder war. Für mich war er nach wie vor ein Familienmitglied. Er bedeutete mir sehr viel und ich wollte ihn nicht verlieren. Aber gerade war mir einfach alles zu viel. Ich konnte mich nicht ausschließlich darum kümmern, ihn wieder für mich zu gewinnen.
Ich wusste ja nicht mal richtig, wer ich war.
Ich erinnerte mich an nichts, aber auch gar nichts. Da waren Ausschnitte, ja, Stimmen oder Stimmungen, an die ich mich erinnerte. Ich hatte es bisher immer nur für Erinnerungen an Träume von mir gehalten, aber anscheinend erinnerten sie mich an mich selbst. Aber das änderte nicht viel.
Ich war Jay.
Ich war der Typ, der Chads kleinen Bruder umgebracht hatte.
Wie hatte Austin jemanden wie mich nur lieben können? Er hatte immer so gut von Jay gesprochen. Alle hatten das. Sie hatten mich immer mit ihm verglichen... Nein mit mir.
Ich war Jay.
Ich war Jay.
Ich war Jay.Egal, wie oft ich es in Gedanken wiederholte, das machte es für mich einfach nicht realer.
Ich konnte es nicht glauben.
Ich war so versunken in meinen verwirrenden Gedanken, dass ich gar nicht bemerkte, wie jemand zu mir rauskam, bis ich eine Berührung am Oberarm spürte und sich von da aus eine wohlige Wärme in meinen gesamten Körper ausbreite.
„Hei, du bist ja total kalt" Austins Stimme war besorgt.
Auch für ihn war das sicherlich alles andere als leicht.
Ich drehte mich langsam zu ihm um, wodurch er mich losließ und ich sofort wieder zu frieren begann.„Wo ist Chad?" Austin sah sich um, wohl, um mich nicht ansehen zu müssen.
„Weg. Keine Ahnung, wohin. Wir haben gestritten, er hat geschrien und dann ist er gegangen"
Austin schloss für einen Moment leidend die Augen, als er tief durchatmete und meinte: „Okay. Das renkt sich schon wieder ein."
Schließlich sah er mich doch an. „Lass uns reingehen, du zitterst schon total..." Er wollte seine Hand auf meine Schulter legen und mich voran schieben, aber ich wich zurück.
„Ich kann da nicht rein"
Austin sah mich verwirrt an. „Wieso?"
Ich schüttelte leicht den Kopf, sah auf seine Füße. „Die hassen mich bestimmt alle", murmelte ich dabei traurig.
Einen Moment lang tat Austin gar nichts, dann seufzte er, kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. „Keiner hasst dich. Das ist alles nur ein bisschen viel für alle. Vor allem Chad. Ich weiß nicht, was er dir gesagt hat, aber er meint es mit Sicherheit nicht so. Ich verspreche dir, dass er zurückkommt und ihr euch wieder vertragen werdet. Vielleicht nicht heute und vielleicht auch nicht morgen, aber irgendwann"
Ich schloss die Augen, als ich mich an ihn drückte und dies Gefühl von zuhause genoss, das ich plötzlich hatte.
Bei Austin war ich richtig, das hatte ich schon immer gewusst. Jetzt wusste ich wenigstens wieso.
Ich war davon überzeugt gewesen, meine Gefühle waren wichtiger als die Fakten meiner Vergangenheit. Ich hatte mich geirrt. Offensichtlich war ich kein wirklich guter Mensch gewesen.
Ich hatte andern wehgetan. Ich hatte andere ins Koma geprügelt. Ich hatte Leute verletzt. Und ich erinnerte mich kein Stück daran.Was hatte sich dieser Engel dabei gedacht? Hatte er die Erinnerungen einfach vergessen oder sollte all das einen höheren Sinn haben? Ich verstand nicht, wieso das alles. Wäre ich wieder in meinem Körper erweckt worden, wäre mir selbst und allen Anderen so viel Verzweiflung erspart geblieben.
Nun lebte ich in dem Körper eines Jungen, den ich nicht kannte, für dessen Tod ich aber offensichtlich verantwortlich war und hatte keine Ahnung mehr, wer oder was ich eigentlich war. Menschlich konnte man das alles nämlich nicht mehr nennen.
Ich seufzte schwer an Austins Schulter.
Das war mir alles zu kompliziert. Ich konnte nicht mehr. Ich brauchte Sicherheit und ich hoffte, Austin konnte sie mir geben.
„Wer bin ich eigentlich?", murmelte ich vor mich hin.
Er musste es wissen. Er kannte mich doch. Er liebte mich doch. Aber ich war offensichtlich nicht mehr ich.
„Das finden wir zusammen heraus, Liebling", versprach er mir leise.
Ich nahm alle Kraft zusammen und löste mich von ihm. Ich wollte ihm bei meiner nächsten Frage in die Augen sehen.
„Hast du das gewusst? Dass Jay... dass ich jemanden umgebracht habe?"
Austin seufzte tief, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Ich wusste von... seiner Vergangenheit, dass die alles andere als blumig gewesen ist. Er hat erzählt, dass er mit Drogen gedealt hat, öfter mal jemanden verprügelt hat, aber von di... Dale hat er nie was erzählt. Und ich denke auch nicht, dass er je wusste, wen er da wirklich verprügelt hat. Das hätte er mir gesagt, ganz sicher."
Ich schluckte und nickte. „Und was soll ich jetzt machen? Ich meine, ich stecke im Körper von Chads kleinem Bruder, für dessen Tod ich verantwortlich bin, mein Körper ist wahrscheinlich lang verwest und meine Seele hat keine Ahnung, wer sie eigentlich ist. Ich... ich fühlte mich grade so verloren, Austin" Ich sah ihn verzweifelt an.Ich wollte nicht, dass das alles wahr war. Ich wollte gerade einfach nicht mehr ich sein. Ich fühlte mich so schrecklich.
Vielleicht hatte Chad recht. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich wäre einfach tot geblieben...
Aber all diese Gedanken verwarf ich plötzlich, als ich eine Berührung an meinen Lippen spürte.
Es war nur eine leichte, vorsichtige, so als erwarte Austin jeden Moment einen unwahrscheinlichen Schmerz, nur weil er mich küsste, aber eher das Gegenteil war der Fall.
Dieser Kuss, den man nicht mal richtig als solchen bezeichnen konnte, reinigte mich von allen dunklen Gedanken. Er machte alles andere so unwichtig und er sorgte dafür, dass ich wusste, dass ich genau da war, wo ich sein musste. Bei ihm.
Die Rahmenbedingungen dafür waren zwar scheiße, aber unwichtig, solange er einfach nur da war und mich liebte.
Dieser Kuss bewies, dass er genau das tat. Obwohl es schwer war. Obwohl es noch lange schwer sein würde. Und obwohl es noch lange nicht an der Zeit war, das auch wieder auszusprechen. Austin liebte mich und nichts auf der Welt konnte daran etwas ändern. Ich musste nicht, wissen, wer ich war, denn solange Austin bei mir war, konnte ich sein, wer ich wollte mit der Sicherheit, dass er mich unterstützte und seine Gefühle für mich niemals verlieren würde.
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Only You
Fantasy-Alle lebten in Angst und Schrecken und das, obwohl offiziell noch Frieden herrschte.- Die Welt hat sich verändert. Die Menschen und Vampire haben sich verändert. Oder es hat einfach keiner mehr Lust auf Friede, Freude, Eierkuchen. Nach den verga...