-60-

68 3 4
                                    

Dienstag, 13. August

Ich fühle mich so warm, doch gleichzeitig auch kalt.

Eigentlich geborben, aber trotzdem ohne Halt.

Es fühlte sich so falsch an, tief in seiner Brust. Es raubte ihm den Schlaf und nahm ihm die Luft zum Atmen. Je mehr er nachdachte, desto mehr stieg der Druck.

Ich weiß nicht wie, doch ich weiß ich muss, diese Kluft überwinden, vor dieser gottverdammten Schlucht. Bevor ich falle ... und nicht mehr aufstehen kann.

Linus wollte abhauen, einfach verschwinden. Er wollte weit weg von diesem Ort. Einfach weglaufen vor alldem, vor all dem Stress und den Problemen. Er fühlte sich, als würde sein Kopf platzen. Nur die Drogen konnten ein wenig Platz schaffen. Er musste sein Schweigen brechen, sonst würde er explodieren. Stille Wasser waren tief und er musste hier nun raus. Er steckte so tief da drin, er konnte das nicht gewinnen.

Beim Essen mit seiner Schwester – Melissa war an der Arbeit – redete er nicht. Irgendwann stieß Hannah laut die Luft aus und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Reiß dich zusammen, Linus. Komm über die Scheiße hinweg."

In dem Moment, in dem Hannah diesen Satz sagte, wollte Linus' Herz zerspringen.

Tränen wollten aus seinen Augen strömen.

Seine Hände wollten um sich schlagen.

Sein Kopf wollte sich umbringen.

Aber Hannah konnte es nicht sehen.

Denn Linus riss sich zusammen.

Er sagte nichts. Wortlos schob er seinen Leeren Teller von sich und stand auf.

„Ja, lauf wieder vor deinen Problemen weg, so wie immer", kommentierte Hannah kalt.

„Am Donnerstag baue ich endlich das Baumhaus ab!", rief sie ihm hinterher. „Mit oder ohne dir."

Linus verließ das Haus leise. Seine Hände schwitzten, sein Herz raste und sein Kopf war voll, als er an Rubens Haus vorbei lief. Kein einziges Mal schaute er zur Tür. Bis die Tür geöffnet wurde. Er ging weiter. Er wurde gerufen, was den Braunhaarigen dazu veranlasste, noch schneller zu gehen.

„Jetzt warte doch!", schrie Ruben so laut er konnte. Kurz blieb er stehen, wollte umdrehen, zurück in sein Haus gehen und die Tür so fest zuknallen, dass sie kaputt ging. Doch sein Herz führte ihn den Bürgersteig entlang, seinem Freund hinterher. Er rannte los, schloss zu Linus auf und packte ihn am Arm. Linus drehte sich nicht um und starrte auf den Boden, als Ruben sich vor ihn stellte.

„Man, wieso bist du eigentlich immer so ein scheiß Arschloch, Linus?", brüllte der Grünäugige dem Anderen entgegen. Der Angesprochene wollte flüstern, doch was schlussendlich aus seiner Kehle drang, war ein lauter Schrei. Sein Hals schmerzte bereits, doch er wurde erst gegen Ende hin leiser.

„Man, weil mein scheiß Vater mich in ein Camp geschickt hat, in dem mir eingebleut wurde, dass ich nicht leben sollte, weil ich auf Schwänze stehe, okay?"

„Was?" Panisch blickte Ruben seinem Freund in die Augen. Der Ältere hielt diesem Blick nicht stand, also senkte er ihn.

„Oh Scheiße Linus...", murmelte Ruben tränenerstickt und schlang seine dünnen Arme um den Braunäugigen. Das erste Mal seit Wochen – seit dem Tod von Linus' Großvater – erwiderte Linus die Umarmung seines Freundes. Das erste Mal fühlte er sich wieder ansatzweise sicher. Doch es fühlte sich nur für einen Moment richtig an. Er löste sich. Ohne es abzusprechen liefen die Jungs nebeneinander her.

„Ich habe versucht, hetero zu sein. Ich habe gedacht, wenn ich es einfach gut genug versuche wird es klappen. Und das hat es auch, aber dann..."

„Dann was?", fragte Ruben vorsichtig.

„Dann bist du gekommen verdammt nochmal!", schrie Linus laut, dann blickte er seinen Freund entschuldigend an und wurde leiser. „Dann bist du gekommen, hast mein beschissenes Leben auf den Kopf gestellt und besser gemacht. Und jetzt, jetzt kommt alles wieder hoch. Ich habe wieder Albträume, Panikattacken und ... ich halte diese verdammte Scheiße einfach nicht mehr aus. Ich kann das nicht mehr." Linus blieb stehen. „Es tut mir leid, Ruben." Er ließ den Jüngeren stehen, lief einfach los, ohne sich umzudrehen. Erst nach einigen Metern machte er auf dem Absatz kehrt und blieb vor Ruben stehen, welcher noch immer wie angewurzelt dastand.

„Es tut mir so, so, so leid, Ru. Ich liebe dich." Linus versuchte seine Tränen hinunterzuschlucken. All den Schmerz, der durch seinen Körper floss. Die Angst regierte ihn, die Stimmen in seinem Kopf lenkten ihn. "Das wars für mich."

„Wie meinst du das?" Rubens Stimme zitterte, als er das sagte. Er hielt seine Tränen nicht zurück. Die Zeit schien stehen zu bleiben und doch so schnell an ihnen vorbei zu fliegen. Linus zog seine Hand weg, als der Andere nach ihr greifen wollte.

„Genau so wie ich es gesagt habe." Linus setzte sich in Bewegung, stieß mit seiner Schulter gegen Rubens und stieß ihn somit leicht zur Seite.

Der Grünäugige brauchte einige Zeit, bis er ansatzweise aufhörte zu weinen. Er zog stundenlang verheult durch die Straßen und registrierte erst nicht, in wen er soeben gelaufen war.

„Sag mal, geht's no- Kempilein!" John verzog sein Gesicht zu einer überraschten, wütenden Grimasse.

„Nicht jetzt", murmelte Ruben emotionslos und wollte weiter gehen, rechnete aber trotzdem damit, dass John ihn nicht gehen ließ. Und das tat er auch nicht.

„Ich bring dich sowas von um!", grinste er dreckig.

Ruben zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Dann brings doch endlich hinter dich." Rubens Gedanken drehten sich noch immer um Linus und was er vor einiger Zeit zu ihm gesagt hatte. Plötzlich veränderte Johns Grinsen in einen undefinierbaren Gesichtsausdruck. Er fing sich schnell wieder.

„Du ritzt dich?", fragte der Ältere herabwürdigend und schmunzelte. Nun brannten bei Ruben die Sicherungen durch.

„Ja. Guck mal-" Er deutete auf eine dünnen Schnitt, der schon so gut wie verheilt war. „Den hab ich letztens gemacht, nachdem du mich zusammenschlagen wolltest." John lachte amüsiert, doch noch immer lag ein undefinierbarer Schatten auf seinem Gesicht.

„Und da irgendwo unter den ganzen Narben..." Der Grünäugige deutete auf sein Handgelenk. „Da ist die Narbe von meinem ersten Schnitt. Du fragst dich sicher was der Auslöser dafür war, richtig? Weißt du noch, damals ... du hast mir vor den gesamten elften Klassen die Hose runtergezogen. Ich bin nach Hause gelaufen ... und hab meinen ersten Schnitt gemacht. Aber das war nur ein Scherz, richtig? Genau wie es nur ein Scherz war, als du mich nackt aus dem Wasser zerren wolltest. Oder als du Marcel Geld gegeben hast, damit er mit mir- Aber es waren ja alles nur Scherze. Und Scherze sollen ja immer witzig sein. Tja, ich hab nie gelacht." Mit diesen Worten stürmte Ruben an seinem Peiniger vorbei und wischte sich über die Wangen.

„Ich habe auch ein beschissenes Leben. Komm' drüber hinweg und hör auf zu heulen." Als Ruben stehen blieb und sich umdrehte, zuckte John mit den Schultern.

„Mein Dad ist Alkoholiker und mein Bruder schikaniert mich, seit ich klein bin." Ruben stockte. Er wusste nicht, was er tun sollte, denn noch immer verspürte der junge Mann den starken Drang, seinem Mobber eine reinzuhauen.

„Deshalb hab ich das gemacht", gab John zu.

Ruben wusste nicht, was er dazu sagen sollte.

„Das tut mir wirklich leid für dich, John", flüsterte Ruben leise, bevor er die Hauswand entlang sprintete und den Älteren alleine ließ. Alles, was er gesagt hatte, hatte er zu einhundert Prozent so gemeint.

:(:

Alles, was jemand tut, hat einen Grund. Jedes Wort, jeder Blick, jede Aktion. 

I'm sorry? - oder so ähnlich

1157 Wörter

UPSIDE DOWN :(:Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt