Schadensbegrenzung

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Ich war aus allen Wolken gefallen, als Henry mich angerufen hatte und mir von Claires Fehltritt erzählte. Irgendwann musste es ja so kommen. Ich wusste, das sie schon lange deswegen mit sich haderte. Aber mir war klar, dass Henry das nicht von heute auf morgen einfach so sagen konnte. Nun hatte sich das erledigt. Ich traute mich kaum, nach dem Telefonat mit Henry ins Internet zu gehen, um bei Instagram und Co zu schauen. Doch ich wollte sehen, was sie angerichtet hatte. Die Bilder waren nicht schön, ich sah meine verängstigte Tochter, die sich an Henry klammerte. Henry sah müde aus, eindeutig nicht ganz auf dem Damm. Und er war überstürzt aufgebrochen. Denn er würde sich sonst niemals mit einer Jogginghose in die Öffentlichkeit begeben, wenn er nicht grad beim Training war.
Ich hatte Henry gefragt, ob ich herkommen sollte, doch er verneinte. Er würde das schon geregelt bekommen. Henry würde sie später zurück ins Hotel fahren, mit ihren Lehrern sprechen und Claire dann ihren Urlaub in London genießen lassen.
Ich hatte vorgeschlagen, es meiner Haftpflichtversicherung zu melden, doch er versicherte mir, dass die Mädchen auch über ihn versichert seien.
Er würde sich mit seinen Anwälten  beratschlagen und sich dann schließlich mit den Geschädigten zusammensetzen und hoffen, das sie von einer Anzeige absehen. Claire würde sich entschuldigen müssen und dann würde sie tun, was man auch immer von ihr verlangte.
Mein Mädchen tat mir leid. Es war keine Entschuldigung dafür, was sie verbockt hatte, dennoch tat sie mir leid. Das Internet zerriss sich das Maul, wer wohl die Mutter sei. Wie lange Henry wohl schon von ihr wusste, und und und. Henry hatte ihr das Versprechen abgenommen, sich für die nächsten Tage von Instagram und Co fernzuhalten. Das würde sie viel zu sehr verunsichern. Es war schwer für mich, jetzt einfach hier zu bleiben und nicht für Claire da zu sein. Aber Henry hatte recht. Es wäre unsinnig, jetzt nach London zu fliegen. Claire sollte ihre Fahrt mit der Klasse genießen, sofern das möglich war. Das würden die nächsten Tage wohl zeigen. Und Henry tat alles, was nötig war. Und er war für Claire da. Es fehlte ihr an nichts. Und wenn irgendetwas sein sollte, würde sie sich melden. Ich hatte mit ihr telefoniert und sie hatte mir versichert, dass sie klarkommen würde.
Es dauerte keine zwei Stunden, da rief mich schon die erste Mutter aus dem Kindergarten an. Sie hatte die Meldung im Internet gesehen und wollte nun wissen, ob es stimmen würde. Wie dumm manche Menschen waren. Sie kannten meine Mädchen und sie kannten Henry. Und wenn sie die Bilder sahen, konnten sie wohl eins und eins zusammenzählen.
Monika rief mich natürlich auch an und bettelte darum, dass ich ihm ihre Nummer geben würde. Das würde ich auf keinen Fall tun. Henry gehörte mir, aber das rieb ich ihr natürlich nicht unter die Nase. 
Nach dem Dritten Anruf, den ich ablehnte schaltete ich das Haustelefon aus und stellte mein Handy auf Flugmodus. Ich hatte keine Lust auf mehr Anrufe. Ich rief nur meine Eltern an, um sie zu informieren. Die waren mindestens genauso geschockt, wie ich es gewesen war.
Ansonsten schottete ich mich ab, was Telefone anging. Melli kam am Abend vorbei. Sie war vor ein paar Stunden Zuhause angekommen und hatte auch ziemlich schnell Wind von der Sache bekommen.
Außerdem sah sie es mir an der Nasenspitze an  das sich etwas verändert hatte. Und sie bohrte solange nach, bis ich ihr endlich reinen Wein einschenken. "Ahhh. Ich habe doch gewusst. Endlich. Ich hab schon fast die Hoffnung aufgegeben" hatte sie gesagt und mich umarmt. Mit einem Glas Wein hatten wir den Abend ausklingen lassen.

Claire hatte sich nach oben in ihr Zimmer verkrümelt und ich saß im Wohnzimmer, telefonierte mit der Versicherung und mit meinen Anwälten. Die würden sich mit dem Museum in Verbindung setzen. Ich betete darum  das sie von einer Anzeige absehen würden.
Dann telefonierte ich einige Zeit mit meiner Agentin. Wir einigten uns darauf, dass sie es bestätigen konnte, aber nichts anderes dazu sagte. Sie schickte mir sämtliche Interviewanfragen zu, die schon jetzt eintrudelten, doch ich lehnte sie alle ab. Nicht eine Anfrage von seriösen Internetseiten, oder Magazinen war dabei. Allesamt Klatschblätter und -seiten, denen man eh keinen Glauben schenken konnte. Auch die Anfrage auf eine Pressekonferenz lehnte ich ab. Ich wollte zwar, das nun Licht ins Dunkel kam und der Öffentlichkeit von meinen Mädchen erzählen, aber ich wollte sie unter keinen Umständen vor die Kamera zerren. Sie sollten weiterhin so normal wir möglich leben können.
Ich seufzte, denn ich dachte an Die Zeit in Deutschland. Sicher würde die Meldung auch vor dem verschlafenen Städtchen nicht Halt machen und so wäre das mit meiner Anonymität dort auch vorbei. Nun ja, ich würde es überleben.

Gegen späten Nachmittag, nachdem ich einige Mails beantwortet hatte, mit jeder Menger Leute telefoniert hatte und auch meine Familie beruhigte, klopfte ich an der Zimmertür meiner Tochter. Sie saß auf ihrem Bett, mit einem Buch in der Hand. Ich schaute auf den Einband. „Der Hobbit? Gutes Buch. Besser als der Film“, merkte ich an.
„Find ich auch“, lächelte sie und ich setze mich zu ihr. „Was meinst du, soll ich dich zurück bringen?“ fragte ich vorsichtig.
„Ich weiß nicht. Die werden mich mit Fragen durchlöchern“, gab sie zu bedenken und ich konnte es verstehen. „Das werden sie wohl. Aber diesmal kannst du einfach die Wahrheit sagen. Oder einfach gar nichts. Wie es dir am liebsten ist“, schlug ich vor. Sie hob unschlüssig die Schultern. „Irgendwann wirst du wieder zurück müssen. Ich kann dich für heute Nacht hier lassen, aber morgen solltest du zurück“, schlug ich ihr vor.
„Ich denke, je früher desto besser“, murmelte sie und erhob sich. Ich nahm ihren Rucksack und folgte ihr nach unten. „Bringst du mich denn noch zum Zimmer?“ fragte sie mich und ich schmunzelte. Da hatte mein großes Mädchen wohl etwas Muffe. „Na klar, wenn du das möchtest“, versicherte ich ihr und wir fuhren los. Ich hatte mir mittlerweile etwas anderes angezogen. Ich hatte die Jogginghose mit einer Jeans getauscht und das Schlabbershirt gegen ein Vernünftiges. Und meine Haare hatte ich auch nochmal gekämmt. Das von heute Mittag war eine einmalige Sache gewesen. So würde man mich sicher nicht nochmal zu sehen bekommen.
Ich fuhr Claire zum Hotel, wobei wir unterwegs kurz durch den Mc Drive fuhren, weil wir beide Hunger hatten. Wir aßen auf dem Parkplatz und waren dankbar, das uns niemand ansprach. Beim Hotel angekommen nahm ich wieder Claires Tasche. Ich folgte ihr zum Zimmer, wo sie sich dann von mir verabschiedete. Sie umarmte mich lange und ich gab ihr den Moment, hielt sie. Ich strich ihr lächelnd über die Wange, hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer.
Ich erkundigte mich, wo ihn Claires Lehrer finden konnte und sprach kurz mit ihnen. Sie würden Claire nicht nach Hause schicken und sie würden ein Auge auf sie haben, damit man sie nicht allzu sehr belästigte. Sollte das der Fall sein, würde man mich gleich anrufen. Dann würde ich sie sofort zu mir holen. Aber ich hoffte auf ein paar entspannte Tage, zumal mich meine Erkältung immer noch nervte.

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