Krankenhaus

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„Henry?“, hörte ich Smilla und ich öffnete verschlafen die Augen. Sie stand in der Badezimmertür und hielt sich den Bauch. „Ich glaube, wir sollten fahren", schnaufte sie und ich war augenblicklich hellwach. Ich nickte nur und stand auf, nahm ihre Hand und half ihr, sich umzuziehen. „Bitte ruf meine Hebamme an", bat sie mich und reichte mir ihr Handy. Ich suchte ihre Nummer raus und wählte sie. Als sie ran ging, schilderte ich ihr kurz was Sache war und sie versicherte mir, dass wir uns im Krankenhaus treffen würden.
Während ich mich selbst anzog, rief ich Nick an, der mir versprach, dass er zu uns fahren würde, wenn es soweit war, um die Mädchen zu wecken.
Ich nahm Smillas Tasche und ihre Hand, wartete einen Moment, bis sie soweit war und ging mit ihr runter. „Ich sag nur noch kurz Claire Bescheid, dann fahren wir“, versicherte ich ihr und ging nochmal kurz hoch.
„Claire…?“, sagte ich leise, bekam aber keine Antwort. „Claire…“, sagte ich nochmal und strich ihr über die Wange. Brummend hob sie den Kopf. „Dad, seit wann bist du hier?“, fragte sie verschlafen. „Seit gestern Abend. Hör zu, ich fahre mit deiner Mom ins Krankenhaus. Nick kommt nachher hierher", klärte ich sie auf. „Oh, ok.“ Ich hörte Smilla nach mir rufen und ich drückte Claire nur noch schnell einen Kuss auf die Stirn. „Ruf an!“, bat sie mich und ich eilte nach unten. Ich half Smilla ins Auto und fuhr vom Hof. Unterwegs wurde sie von mehreren Wehen überrollt und es fiel mir unsagbar schwer, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Ich hatte das Gefühl, überhaupt nicht voran zu kommen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen wir beim Krankenhaus an, ich parkte und nahm Smillas Hand und ihre Tasche. Sie lehnte sich stöhnend an mich und ich hielt sie, bis auch diese Wehe vorüber war.
Wir konnten gleich in den Kreissaal, wo die Hebamme sie als erstes kurz untersuchte. Der Muttermund war etwa drei Zentimeter geöffnet, was wohl so viel hieß, dass es noch ein paar Stunden dauern würde. Danach wurde meine Frau an den CTG angeschlossen und wir lauschten dem Herzschlag unseres Sohnes. Zumindest solange Smilla nicht grade mit einer Wehe zu kämpfen hatte, was eigentlich im Minutentakt der Fall war.

Ich war erschöpft und hatte kaum noch Kraft, die Wehen wegzuatmen. Sie waren schmerzhaft und ich hatte es nicht in Erinnerung, dass sie so schlimm waren. Henry saß meist ziemlich hilflos neben mir, stand mir aber bei und nahm die Ratschläge von Vanessa, meiner Hebamme an. Sie hatte mich daran erinnert, dass eine PDA noch möglich sei, aber die wollte ich auf keinen Fall. Damals bei Claires Geburt hatte ich damit schlechte Erfahrungen gemacht, und ich hatte mir geschworen, das nie wieder zu tun.
Im Moment liefen wir über den Flur, um es vielleicht noch etwas schneller in die Gänge zur bringen. Alle paar Minuten musste ich anhalten, um die nächste, immer heftiger werdende Wehe wegzuatmen.
„Oh.“, machte ich, als ich ein leises Platschen hörte und sich der Inhalt meiner Fruchtblase um meine Füße sammelte. „Oh", kam es auch von Henry und er sah mich hilflos an, wollte schon ohne mich zurück in den Kreißsaal laufen. „Lass mich hier nicht alleine stehen", maulte ich und er nahm meine Hand. „Du bist echt überfordert. Oder?“, fragte ich halb amüsiert und er sah mich entschuldigend an. „Ein wenig", gab er zu und sah auf die Pfütze. „Das sollte ich wegmachen oder?“ „Nein, wir sagen Bescheid. Dann macht das jemand anderes. Ich würde jetzt gerne aus diesen nassen Klamotten raus.“ Neben ihm her watschelnd gingen wir zurück in den Kreißsaal.
Er half mir aus meinen Sachen, während sich Vanessa darum kümmerte, dass der Flur gesäubert wurde.
Die weitere Untersuchung ergab, dass sich einiges getan hatte und der Muttermund nahezu vollständig geöffnet war. Es konnte also jeden Moment richtig losgehen. Die Sonne ging bereits auf und ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass meine Mädchen bereits auf dem Weg zur Schule oder im Kindergarten sein müssten. Mein Gedankengang wurde von einer weiteren Wehe unterbrochen, die noch heftiger als die davor. Ich griff nach Henrys Hand, quetschte sie nahezu und stöhnte schwer und laut.
„Ok, bei der nächsten Wehe mitdrücken“, bekam ich die Anweisung und ein Arzt und eine Schwester betraten den Kreißsaal. Wann hatte sie nach dem Arzt gerufen? Ich war ein wenig überfordert. „Ich bin noch nicht so weit", sagte ich panisch und bekam mit einem Mal Angst. „Doch, Smilla, du bist soweit. Bei der nächsten Wehe kräftig nach unten schieben" forderte sie ein weiteres Mal, doch ich atmete die Wehe weg. „Smilla, du musst mitarbeiten", forderte sie mich auf und ich sah hilfesuchend zu meinem Mann. „Darling, du schaffst das. Ich bin bei dir“, sprach mir Henry gut zu und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Die nächste Wehe kam unmittelbar und ich schrie auf, während ich dem Druck nachgab und drückte. Kaum war die Wehe vorbei, überrollte mich die nächste und ich schob weiter. Ich pustete und schnappte nach Luft, aber hatte das Gefühl, sie nicht zu bekommen, denn schon die nächste Presswehe kam mit aller Kraft. Wieder schrie ich und drückte dabei Henrys Hand. „Atmen, Smilla. In den Bauch hinein. Dein Baby braucht Sauerstoff", forderte Vanessa und ich gab mein bestes, um ihm den Sauerstoff zu geben. „Bei der nächsten Wehe machen wir eine Pause. Dann geht es weiter", sagte sie und ich nickte, nicht fähig etwas zu sagen. Henry sah vollkommen überfordert aus, versuchte aber sich nichts anmerken zu lassen und strich mir mit einem kalten Lappen, den Vanessa ihm gegeben hatte, über die Stirn.
Die nächste Wehe kam und ich drückte mit aller Kraft. „Sehr gut, wir haben es bald geschafft. Das Köpfchen ist zu sehen. Ganz dunkle Haare“, berichtete sie. “Henry, möchtest du sehen?“ fragte sie und er sah mich panisch mit großen Augen an. „Wag es dir...", warnte ich ihn und schob wieder, als die nächste Wehe kam.
Es brauchte fünf oder sechs weitere Presswehen als endlich der Druck nachließ und ich den dunklen Schopf meines Babys sehen konnte. „Ein kleiner Junge", hörte ich und schnappte nach Luft, blinzelte meine Tränen weg. Ich hörte einen leisen Schluchzer, der nicht von mir kam und als mir Vanessa unseren Sohn auf die Brust legte, spürte ich auch schon Henrys Lippen auf meinen. Ich sah in seine glänzenden Augen und wischte ihm eine Träne weg. Er war wie ich, völlig überwältigt von unserem Glück und ich hielt ihn umständlich an mich gedrückt, während ich unseren Sohn hielt. "Henry, möchtest du die Nabelschnur durchschneiden?" wurde er gefragt und erledigte das mit zittrigen Händen.  „Wie ist denn sein Name?“, hörte ich die Kinderkrankenschwester fragen, während sich der Arzt um alles weitere kümmerte. „Mason.“, sagte Henry. „Mason Connor Cavill", vervollständigte er. „Du musst Claire anrufen“, bat ich meinen Mann, der sein Handy nahm. Vanessa half mir, den Kleinen an meine Brust zu legen. Denn natürlich wollte ich es mir nicht entgehen lassen, unseren Sohn zu stillen. Ich hörte, wie Henry mit unserer Tochter telefonierte und betrachtete glücklich unser kleines Wunder, was unsere Familie perfekt machte. Ich wurde von einer unmenschlichen Müdigkeit überrollt und schloss ergeben meine Augen. Nur ganz am Rande bekam ich mit, wie Henry meinen Namen sagte und immer panischer wurde. Ich konnte nicht antworten und driftete immer weiter in die lähmende Müdigkeit hinein.

So gut es ging hatte ich Smilla bei ihren Wehen beigestanden, auch wenn ich absolut nichts weiter tun konnte als ihre Hand zu halten, oder ihre Stirn mit einem kalten Lappen abzuwischen. Sie zerquetschte beinahe meine Hand, während der Wehen. Sie tat mir unsagbar leid und es brachte mich beinahe um den Verstand, als ich sie schreien hörte. Und plötzlich war alles vorbei und Vanessa hielt unseren Sohn in den Händen. Ich hörte ein Schluchzen. Und bemerkte, dass es aus meiner Kehle gekommen war. Ich küsste Smilla, als sie unseren Sohn auf die Brust gelegt bekam und legte behutsam meine Hand auf den Rücken meines Sohnes. Er war winzig und hatte ganz dunkle Haare. Und kleine Löckchen. Ich war überglücklich. "Henry, möchtest du die Nabelschnur durchschneiden?" fragte mich Vanessa und nahm die Schere entgegen, schnitt mit zitternden Händen die zähe Schnur durch. „Wie ist denn sein Name?“ wollte die Schwester wissen. „Mason. Mason Connor Cavill", antwortete ich und war einfach nur glücklich. Ich betrachtete mein Glück. „Du musst Claire anrufen", bat mich Smilla dann und nachdem ich ihr noch einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, machte ich ein Foto von Smilla und Mason und schickte es meiner Tochter. Dann rief ich sie an. „Dad? Ist das Baby da?“ fragte sie sofort aufgeregt. „Ja, das Baby ist da. Du hast einen Bruder", sagte ich glücklich. „Ich hab dir ein Foto geschickt..“ fügte ich hinzu und sah, dass Smilla ihre Augen schloss, sich ihre Gewichtszüge entspannten und ihr Arm vom Bett rutschte. „Smilla?“ sprach ich sie an, bekam aber keine Reaktion. Reglos lag sie da. „SMILLA…“ sagte ich erneut und rüttelte sanft an ihr. Mir rutschte das Handy aus der Hand und plötzlich ging alles ganz schnell. „Sie verliert zu viel Blut“, hörte ich und sah dann, wie Mason seiner Mutter entrissen wurde und der Puls meiner Frau gefühlt wurde. Ich wurde zur Seite geschoben und ich musste tatenlos mit ansehen, wie man versuchte, meine Frau zu reanimieren. Ich war wie gelähmt und doch wehrte ich mich mit allen Mitteln, als man mich aus dem Kreißsaal schob.

FamilienbandeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt