Wo ist mein Baby

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„Dad warte", bat mich Claire als ich zu Nick ins Auto steigen wollte, und ich drehte mich zu ihr um. „Geht es Mom wirklich gut?“, wollte sie wissen und ich seufzte. Ich wollte Claire nicht anlügen. „Ich weiß es nicht", gab ich zu und zog meine Tochter in die Arme, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. „Sie liegt auf der Intensivstation und schläft noch. Sie ist operiert worden und hat viel Blut verloren. Aber sie wird wieder gesund", versicherte ich ihr, hob ihr Gesicht an und wischte ihr die Tränen weg. Dann schenkte ich ihr ein kleines, aufmunterndes Lächeln. „Wirklich?“, fragte sie vorsichtig. „Ja wirklich“, versprach ich ihr und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor sie mich noch einmal drückte. Dann ließ sie mich los. „Wenn Mama wach ist, sag ihr, dass ich sie lieb hab“, bat sie mich und ich versprach es ihr.
Nick fuhr mich ins Krankenhaus und während er im Kreißsaal nach meinem Handy fragte, ging ich zu meiner Frau.
Smilla schlief noch immer und wieder zog sich mir der Magen zu. Die Bilder von den vergangenen Stunden schossen vor mein inneres Auge und ich wollte sie vertreiben, aber immer wieder hatte ich die Bilder vor Augen. Immer wieder spielte sich das Szenario ab. Ich fluchte leise und lehnte mich gegen die Fensterbank, schaute durch die gespiegelten Scheiben nach draußen. „Henry?“, hörte ich meinen Bruder und ich drehte mich zu ihm. Er hielt mein Handy in der Hand und reichte es mir. Ich steckte es, ohne draufgesehen zu haben, in meine Hosentasche. „Ich fahr dann mal. Wenn du was brauchst, dann melde dich, ok?“. Ich nickte und mein Bruder ließ mich allein.
Seufzend setzte ich mich auf den Stuhl am Bett und sah Smilla an. Sie war noch immer blass, aber nicht mehr so blass wie heute Morgen. Oder war es Mittag? Ich hatte keine Ahnung. Wie spät war es überhaupt? Ich sah auf mein Handy, denn eine Armbanduhr trug ich heute nicht. Ich hatte einige Anrufe und etliche Nachrichten drauf. Die meisten von Claire. Ein paar von Mom und einige unwichtige. Beantworten würde ich jetzt keine.
Als ich das Telefon wieder wegstecken wollte, fiel mir wieder ein, dass ich ja nach der Uhrzeit sehen wollte, also zog ich es erneut hervor. Es war mittlerweile früher Abend und mir wurde kĺar, dass ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte und auch kaum was getrunken. Aber das war unwichtig.
Ich seufzte und ergriff die Hand meiner Frau, legte sie mir an die Lippen und hielt sie einfach. In ihrer anderen Hand steckte eine dicke Nadel, über die sie eine weitere Bluttransfusion bekam. Müde rieb ich mir übers Gesicht und legte ihre Hand zurück aufs Bett. Ich stand auf, ging etwas im Zimmer auf und ab, und stellte mich wieder vors Fenster, sah hinaus. Ich schaute auf den Parkplatz, wo Autos drauffuhren oder ihn verließen. Unruhig knabberte ich auf meinem Fingernagel herum. Das Warten machte mich wahnsinnig.
„Henry…?“, hörte ich leise und ich drehte mich abrupt um. Smilla hatte die Augen geöffnet und sah mich an. „Smilla", entkam es mir erleichtert und ich eilte zu ihr, nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. Dann legte ich meine Hand an ihre Wange und mein Gesicht an ihren Hals. Und es überkam mich. Ich schluchzte und konnte einfach nicht aufzuhören zu weinen.

Langsam kam ich zu mir und hörte ein leises, stetiges Piepen. Ich öffnete benommen die Augen und sah mich verwirrt um. Was war passiert? Ich wand meinen Kopf Richtung Fenster und sah jemanden dort stehen. Henry, meinen Mann. „Henry…?“, brachte ich heraus, meine Stimme brüchig und kraftlos. Er drehte sich ruckartig zu mir um und war sofort bei mir. Er sah müde und abgekämpft aus. Er vergrub sein Gesicht an meinen Hals und fing an zu schluchzen und zu weinen. Kraftlos legte ich meinen Arm um ihn, nicht wissend, was passiert war. Henry weinte und so hatte ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen. Ich fragte mich, was passiert war und überlegte. Ich versuchte mich an das Letzte zu erinnern. Ich hatte Wehen und er hatte mich ins Krankenhaus gefahren. Ich hatte unseren Sohn geboren. Mein Baby. Wo war mein Baby? Plötzlich überkam mich blanke Panik, dass etwas mit meinem Baby passiert sein könnte. „Wo ist mein Baby?“,?fragte ich und bekam kaum Luft. Mein Mann setzte sich auf, strich sich die Tränen aus den Augen und sah mich an. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Ganz sanft lächelte er mich an. „Ihm geht es gut, Honey“, sagte er und wischte sich nochmal übers Gesicht. „Ich will zu ihm", sagte ich. Henry erhob sich, hauchte mir einen Kuss auf die Lippen und verließ das Zimmer. Ich schloss nochmal die Augen und atmete tief durch. Was war bloß passiert? Warum lag ich in diesem Zimmer und warum bekam ich Blut? Eine Schwester kam ins Zimmer, die mich kurz untersuchte. „Was ist passiert?“, fragte ich. „Und wo ist mein Baby?“.
„Ihr Sohn ist bereits auf dem Weg zu Ihnen, Mrs Cavill. Ihr Mann holt ihn. Schön, dass Sie wieder wach sind", lächelte sie. „Der Arzt ist gleich bei Ihnen und erklärt Ihnen alles.“
Als sie mich wieder allein ließ, legte ich meine Hand auf meinen nun flachen Bauch und zuckte über den Schmerz. Ich fühlte ein breites Pflaster. Hatte ich operiert werden müssen?
Die Tür öffnete sich wieder und Henry kam mit einem Babybettchen herein. Ich wollte mich aufsetzen, doch es schmerzte zu sehr. „Bleib liegen, Honey. Ich bringe ihn dir", sagte Henry sanft und hob unseren Sohn aus seinem Bettchen und legte ihn zu mir. Ich betrachtete ihn liebevoll. „Er ist so winzig", flüsterte ich und hatte nur Augen für unseren Sohn. „Und so wunderschön", lächelte ich. „Wie seine Mommy", hauchte Henry und legte seinen Kopf an meine Schulter, betrachtete ebenso unseren Sohn. "Nein, er sieht aus wie du", widersprach ich. „Henry, was ist passiert?“, fragte ich irgendwann und Henry seufzte. „Du hast viel Blut verloren und sie mussten dich operieren“, erklärte er knapp, aber ich wusste, dass mehr dahinter steckte. „Was für eine Operation?“, fragte ich und Henry setzte sich auf, nahm meine Hand. Gerade wollte er antworten, als die Tür aufging und ein Arzt das Zimmer betrat.
„Mrs. Cavill. Schön, sie so munter zu sehen. Mein Name ist Dr. Hoffman. Ich habe Sie operiert. Wie geht es Ihnen?“, fragte er mich. „Müde", antwortete ich wahrheitsgemäß.  „Haben sie Schmerzen?“. „Nur wenn ich versuche mich aufzusetzen. Was ist passiert?“, wollte ich endlich wissen. „Sie haben bei der Geburt viel Blut verloren und wir konnten es nicht stoppen. Das hat zu einem Herzstillstand geführt, weshalb wir Sie reanimieren mussten. Ich habe Ihnen bei einer Operation die Gebärmutter entfernen müssen", erklärte er und ich nickte. Ich sah zu Henry, der die Kiefer aufeinander presste und mit sich zu arbeiten schien. Ich drückte seine Hand, mit der er meine noch immer hielt. „Sie haben Bluttransfusionen bekommen. Das hier ist die Letzte, das sollte reichen damit sie wieder zu Kräften kommen.“. Ich schaute auf mein Baby und mir stellte sich eine Frage. „Darf ich mein Baby stillen?“, fragte ich gleich. „Natürlich dürfen Sie das. Es kann aber zu Problemen bei der Milchbildung kommen. Haben Sie also Geduld mit sich“, sprach er ruhig. „Ich würde Sie gern nochmal kurz untersuchen, bevor ich Sie drei allein lasse. Darf ich?“, fragte er und ich nickte. Er besah sich meine Operationsnaht und tastete mich danach ab, was mir ein wenig Schmerzen bereitete. „Es ist alles in Ordnung. Wenn Sie möchten, können sie ein Schmerzmittel bekommen, was dem Baby beim Stillen nicht schadet. Und wenn die Nacht komplikationsfrei verläuft, können wir Sie morgen auf die normale Entbindungsstation verlegen“, erklärte er dann und wieder nickte ich. Dr. Hoffman ließ uns alleine und ich schloss erschöpft meine Augen. Ich spürte, wie Henry mir über die Wange strich und als ich meine Augen wieder öffnete, traf mich sein Blick. Leid und Verzweiflung sah ich darin und nun war es an mir meine Hand an seine Wange zu legen. „Mir geht es gut“, säuselte ich. „Hör auf, dir Sorgen zu machen.“ Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln, welches er erwiderte und seine Stirn an meine legte. Ich schloss einen weiteren Moment die Augen.

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