Full House

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„Hier stinkts", hörte ich Claire brummen. „Papa hat gepupst“, kam es kichernd von Ally.
„Was? Ich war das nicht", beschwerte ich mich und setzte mich auf. Mein Hund lag vor dem Bett und warf mir einen vielsagenden Blick zu. „Kal! Meine Güte. Was hast du gefressen?“, beschwerte ich mich und stieg aus dem Bett, riss das Fenster auf. Der Hund flüchtete, Ally lachte und Claire hielt sich die Bettdecke vor die Nase.
Ich fächerte mir frische Luft zu und gähnte dann. „Wie spät ist es?“, fragte ich. „Halb zehn", antwortete Claire und erschrak. „Scheiße, ich hätte längst in der Schule sein müssen!“. Sie sprang auf und hechtete aus dem Zimmer. „Claire!“, rief ich sie zurück. „Ich schreib dir ne Entschuldigung. Ich hab mit Absicht den Wecker ausgestellt.“
Sie kam zurück und sah mich verwundert an. „Einfach so?“, fragte sie. „Ihr wollt doch sicher eure Mom und euren Bruder besuchen. Abgesehen davon, hatte ich echt keine Lust heute Morgen so früh auf zu stehen", gestand ich und Claire kicherte. „Ok“, grinste sie dann. „Kannst du gerne öfter tun.“ Ich zeigte ihr den Vogel. „Das kannst du vergessen. Machst du Frühstück? Ich muss unter die Dusche.“
„Na gut, ausnahmsweise.“
„Los, Monsterchen. Geh mit und hilf deiner Schwester", scheuchte ich meine Kleine, die sich wieder ins Bett gekuschelt hatte. Sie sprang auf und flitzte hinter ihrer Schwester her.
Die Dusche tat wirklich gut und ich merkte meine verspannten Muskeln. Der gestrige Tag war nervenaufreibend gewesen. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit meinem Bruder letzten Sommer, an Claires Geburtstag. „Das ist eine Erfahrung, die ich nie im Leben missen möchte. Auch wenn es für die Frau ziemlich anstrengend ist. Es ist eine wunderbare Erfahrung“, hatte er gesagt. Diese Aussage stimmte für mich nur im Ansatz. Auch wenn die Geburt unseres Sohnes etwas wirklich Wunderbares war, so konnte ich diesen Tag dennoch getrost aus meiner Erinnerung löschen. Das war eine Erfahrung, die ich nie im Leben hatte machen wollen. Ich hatte mit ansehen müssen, wie das Leben meiner Frau aus ihr gewichen war, wie eine Schwester auf ihrem Bett gekniet hat und versuchte ihr Herz wieder zum Schlagen zu bringen.
Ich fluchte und wischte mir übers Gesicht. Dann stellte ich das Wasser kalt, um endlich wach zu werden und meinen Kreislauf in Schwung zu bekommen.
Als ich nach unten in die Küche kam war der Frühstückstisch bereits gedeckt und Claire rührte in einer Pfanne Eier. „Hm.. das riecht gut", lobte ich und schenkte mir Kaffee ein.
Mein gesunder Appetit war zurückgekehrt, denn ich schlug ordentlich zu.  Anschließend ging Claire hoch, um sich fertig zu machen und ich schickte auch Ally hoch, um sich anzuziehen. Ich folgte ihr und legte ihr Sachen raus, denn so wie ich sie kannte, würde sie bei dem Sonnenschein draußen gleich Kleidchen mit kurzen Ärmeln anziehen wollen.

Die Nacht war kurz. Oder sonderbar. Viel geschlafen hatte ich nicht, was vermutlich daran gelegen hatte, dass ich den ganzen Tag geschlafen hatte.
Ich kam mir komisch vor. Mir fehlte mein Babybauch und die Bewegungen meines Sohnes. Und richtig bewegen konnte ich mich auch nicht. Die Schläuche nervten und wenn ich versuchte, mich etwas zu drehen, piepte es gleich irgendwo. Und ich hatte Schmerzen. Nicht die ganze Zeit über, aber wenn ich versuchte mich anders hinzulegen.
Mir hatte mein Baby gefehlt, das im Neugeborenenzimmer schlief, damit ich Ruhe hatte. Nur als er Hunger bekam, wurde er mir zum Stillen gebracht.
Keine Ahnung, wann Henry kommen würde. Ich konnte ihm nicht mal Bescheid geben, das ich verlegt worden war, weil mein Handy immer noch Zuhause war. Ich hoffte, er würde daran denken, es mitzubringen.
Zumindest hatte ich jetzt mein Baby bei mir und ich konnte mich ungehindert auf die Seite legen. Mason nuckelte zufrieden an meiner Brust und ich betrachtete meinen kleinen Sohn, hielt sein kleines Händchen. Müde gähnte ich und schloss die Augen, als es klopfte und die Tür aufging. Henry steckte den Kopf zur Tür herein und schenkte mir ein liebevolles Lächeln. „Mami!“, rief Ally und kam gleich zu mir ans Bett gelaufen. „Hey, was macht ihr denn hier? Solltet ihr nicht im Kindergarten und in der Schule sein?“, wunderte ich mich, freute mich aber sehr meine Mädchen zu sehen. „Dad hat erlaubt, dass wir heute schwänzen dürfen", verkündete meine Älteste grinsend. „So, hat er das?”, ich sah meinen Mann mit einem vielsagenden Blick an und er zuckte nur mit der Schulter. „Solange das nicht zum Alltag wird…“. „Leider nicht. Ich habs schon versucht", murmelte Claire und ich schmunzelte. „Ich will meinen Babybruder sehen", forderte Ally und Henry setzte sie aufs Bett. „Aber vorsichtig", bat er sie und beugte sich zu mir rüber, gab mir einen Kuss. Auch Claire kam zu mir, drückte mir einen Kuss auf die Wange und sah sich ihren Bruder an. „Ist der süß. Und total winzig“, lächelte sie. „War ich auch so klein?“ wollte Ally wissen. „Nein, Spatz. Nicht ganz so klein, aber auch klein und total süß", lächelte ich und strich ihr über ihren Haarschopf.
„Ich hab dir dein Handy mitgebracht", sagte Henry und reichte es mir. „Danke. Hast du draufgesehen?“. Er nickte. „Dasselbe in grün wie bei mir. Die Nachrichten hab ich nicht gelesen.“ Ich schaute kurz drauf und überflog meine Nachrichten. „Melli macht sich Sorgen. Sam hat ihr Bescheid gegeben. Ich glaube, ich sollte sie nachher mal anrufen.“ „Verdammt, ich hab sie gar nicht angerufen. Sam auch nicht“, entschuldigte er sich. „Ich denke, das haben meine Eltern getan. Du hattest anderes im Kopf“, lächelte ich. „Kannst du kurz?“, bat ich, aber Claire kam ihm zuvor. „Ich will. Es ist mein Patenkind“, sagte sie und nahm ihren Bruder vorsichtig auf den Arm, himmelte ihn an. Ich drehte mich vorsichtig zurück auf den Rücken. „Wie geht es dir?“, fragte Henry und setzte sich an meine Bettkante, nahm meine Hand. „Müde. Ich konnte kaum schlafen. Aber du siehst erholt aus. Hast du gut geschlafen?“ „Hab ich. Wenn auch mit wenig Platz im Bett“, lächelte er. „Claire und ich haben bei Papi geschlafen. Und Papa hat gepupst“, erklärte Ally und ich musste lachen, hielt mir den Bauch. „Ally, was erzählst du da für einen Quatsch. Kal hat gepupst", redete Henry dagegen und ich musste noch mehr lachen. „Aua, bitte“, lachte ich und hielt mir den Bauch. „Kal hat also auch in unserem Bett geschlafen?", fragte ich vorwurfsvoll, aber schmunzelnd. „Nein, vor dem Bett. Und hat uns alle mit seinem Gestank aus den Schlaf gerissen“, erklärte Henry lachend.
Es war schön, meine Familie um mich zu haben. Henry lag halb bei mir mit im Bett, Ally lag zwischen unseren Beinen und Claire saß auf dem Stuhl neben dem Bett, die Beine auf einem Hocker gelegt und kuschelte mit ihrem Bruder. Wir hatten einen Film laufen, auf den wir uns alle konzentrierten, bis es klopfte.
Wir schauten auf und Nick kam mit Laura rein. Nick kam zu mir und drückte mich fest an sich. „Du hast uns einen riesen Schrecken eingejagt", flüsterte er mir ins Ohr und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Tut mir leid. Kommt nicht wieder vor“, zwinkerte ich und ließ mich von meiner Schwägerin begrüßen. Nick schnappte sich den Kleinen aus Claires Armen. „Hey, besorg dir ein eigenes Patenkind", beschwerte sie sich. „Sorry, Süße. Du wirst mir langsam zu schwer", scherzte er und flirtete mit unserem Sohn. Laura schaute ihrem Mann über die Schulter und war auch ganz verzaubert. „Guck mal, wie süß er ist. Wollen wir nicht auch noch ein Baby, Nick? Vielleicht bekommen wir ja ein Mädchen", säuselte sie und Nick sah sie geschockt an. Bitte nicht, Darling. Ich bin froh, seit ein paar Jahren keine Ärsche mehr abputzen zu müssen,“ wand er ein und Laura lachte. „Hast ja recht. Klauen wir uns einfach diesen Knirps.“ Henry räusperte sich. „Das ist immer noch mein Kind. Und das wird nicht geklaut.“ „Unser Kind", erinnerte ich ihn und er gab mir einen Kuss. „Sag ich doch. Meins ist Deins", zwinkerte er. Er schien zufrieden und glücklich. Zumindest konnte ich im Moment nicht von der Angst und der Sorge sehen, die gestern noch in seinem Blick gelegen hatten. Nick übergab Henry nun den Kleinen und kaum saß er wieder, klopfte es erneut und meine Schwiegereltern kamen herein. Und schon hatte man ihm seinen Sohn wieder abgenommen. Er schnaufte, ließ es aber über sich ergehen. „Hast du dir das mit der großen Familie echt gut überlegt? Wie du siehst, hat man nichts auch nur fünf Minuten für sich allein… Aua! Mom, wieso schlägst du mich?“, beschwerte sich Henry und rieb sich den Oberschenkel. „Ich bin vielleicht alt, aber ich höre noch immer alles!“, beschwor sie und ich schmunzelte, lehnte mich an Henry. Für die Überlegung ist es eh zu spät. „Guck es dir an. Wir haben Full House, und es ist noch nicht mal die Hälfte da", stellte ich grinsend fest. Es dauerte nicht lang, da waren auch Simon und Danielle im Zimmer. Es war schön, unsere Familie um mich zu haben, aber es war anstrengend. Ich war müde von der Nacht und noch immer erschöpft von den Strapazen der Geburt. Ich lehnte mich an Henry und schloss einen Moment die Augen. „Ich glaube, es wird Zeit euch rauszuschmeißen“, verkündete Henry, als er meine Müdigkeit bemerkte. Henrys Familie war nicht nachtragend deswegen und gaben ihm Recht. Seine Brüder verschwanden als erstes mit ihren Frauen und wenig später auch meine Schwiegereltern. „Wir lassen dich dann auch mal ein wenig in Ruhe“, sagte Henry und erhob sich. Ich ergriff seine Hand. „Bitte bleib noch", bat ich ihn. Ich wollte ihn in meiner Nähe haben. „Ich kann mit Ally nach Hause fahren.“, schlug Claire vor. „Ich fahre einkaufen, mache für später was zu essen, und hole dich später ab.“ Henry hob seine Augenbraue. „Freiwillig?“, Claire verdrehte die Augen. „Kann Ian zu uns kommen?“, fragte sie dann und Henry lachte. „In Ordnung. Aber du brauchst mich nicht abholen. Ich kann auch mit nem Taxi fahren.“
Ally und Claire verabschiedeten sich von uns, dann waren wir alleine.
„Kannst du mir aushelfen? Ich will ins Bad", bat ich meinen Mann. „Darfst du denn schon aufstehen?“, fragte er besorgt. „Ja. Aber nur bis zum Bad“, versicherte ich ihm und Henry half mir aus dem Bett. Den Infusionsständer neben mir herschiebend ging ich zur Toilette. Als ich zurückkam, lag Henry in meinem Bett, unseren Sohn auf seiner Brust liegend und schaute zum Tv, der an der Wand hing. Sanft strich er über den Rücken des Kleinen. Ich blieb einen Moment stehen und sog dieses Bild in mich auf. Es war einfach schön.
„Was stehst du da und träumst?“, riss mich mein Mann aus den Gedanken. Ich lächelte und kam zum Bett, setzte mich umständlich zu ihm und kuschelte mich an. „Endlich ein bisschen Ruhe", schwärmte ich. Henry legte den Arm um mich, mit der anderen Hand hielt er unseren Sohn und ich schloss einen Moment die Augen.
Gegen frühen Abend klopfte es ein weiteres Mal und ich war überrascht, als Sam durch die Tür kam „Sam!“, freute ich mich und ließ mich in eine herzliche Umarmung ziehen. „Gar nicht am Arbeiten?“, zwinkerte Henry. „Ne. Geht grad nicht. Mein Kollege hat sich einfach aus dem Staub gemacht, um ein Baby zu bekommen und hat nicht mal angerufen, als es da war", sagte Sam und warf meinem Mann einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sorry, ich hatte anderes im Kopf", entschuldigte sich Henry. „Dein Dad lässt ganz liebe Grüße ausrichten. Er schafft es leider erst in ein paar Tagen, herzukommen. Er erzählte, es gab Komplikationen. Alles in Ordnung?“, fragte mein Cousin besorgt. „Jetzt ja", murmelte Henry und überließ mir das Reden. Ich erzählte meinem Cousin, was passiert war, soweit ich es wusste und beobachte Henry, wie er an seinen Fingern knibbelte und seine Kiefer aufeinander presste. Ich legte meine Hand auf seine und drückte. Er hatte an dieser Geschichte derbe dran zu knabbern, das erkannte ich.
„Henry? Alles ok?“, fragte Sam, als auch er es bemerkte. „Ja, alles Bestens“, murmelte er und gab mir meinen Sohn. „Entschuldige, bin gleich wieder da", sagte er und verließ das Zimmer. Sam sah mich überrascht an. „Was ist los?“, fragte er und ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es selbst nicht. Ich glaube, ihm setzt es noch ziemlich zu“, vermutete ich und betrachtete meinen Sohn. „Soll ich…?“, bot Sam an und deutete zur Tür und ich schüttelte den Kopf.

Nicht genug, dass ich die Bilder in mir rumtrug. Nein, wirklich jeder wollte wissen was passiert war. Ich wollte diese Sache einfach aus meinem Kopf streichen, aber es funktionierte einfach nicht. Ständig wurde ich daran erinnert. Nicht nur, wenn die Geschichte zum zehnten Mal auf den Tisch gebracht wurde. Nein, jedes verdammte Mal, wenn ich meine Frau ansah. Und jedes verdammte Mal machte es mich beinahe wahnsinnig. Ich war kurz nach draußen gegangen, um frische Luft zu schnappen. Ich rieb mir übers Gesicht und atmete tief durch, zwang mich zur Besinnung.
Mein Handy in der Hosentasche vibrierte. Es war eine Nachricht von Claire, dass in etwa einer Stunde das Essen fertig sei. „Bin bald Zuhause“, antwortete ich und ging wieder zu meiner Frau aufs Zimmer.
Die war gerade dabei, unseren Sohn zu füttern und Sam saß auf dem Stuhl am Ende des Bettes. „Hör auf, meiner Frau auf die Möpse zu glotzen", neckte ich ihn, wissend, dass er es nicht tat. Abgesehen davon konnte man von ihm aus nichts sehen. „Tu ich nicht. Und die Möpse meiner Cousine interessieren mich überhaupt nicht", rechtfertigte er sich und ich lachte. „Mach dir nicht gleich ins Hemd.“ Ich kam zu Smilla ans Bett und gab ihr einen Kuss. „Ich sollte mir ein Taxi rufen. Claire hat das Essen bald fertig“, sagte ich sanft.  „Okay", erwiderte sie und ich rief beim Taxiunternehmen an, forderte mir ein Taxi.
„Wo pennst du?“ fragte ich Sam dann. „Ich werde mir gleich ein Hotelzimmer organisieren. Bin gleich vom Flughafen hier her.“ „Sam, du musst doch nicht ins Hotel. Du kannst bei uns übernachten. Oder, Baby?“, fragte mich Smilla. „Klar, Platz ist genug da", stimmte ich ihr zu. „Wo sind deine Sachen?“ „Ich konnte sie unten am Eingang lassen“, erklärte Sam. „Gut. Das Taxi kommt in fünfzehn Minuten.“
„Gut, dann lass ich euch noch für einen Moment alleine. Wir treffen uns dann unten?“. Ich nickte.  „Ich knutsche dich aus der Ferne, Cousinchen. Sonst dreht dein Ehemann mir noch den Hals um, wenn ich doch einen Blick auf deine Brüste erhasche", lachte er und verschwand aus dem Zimmer.
Ich blieb noch ein paar Minuten bei Smilla und Mason, ehe ich mich mit einem langen Kuss von meiner Frau verabschiedete. Ich traf Sam vor dem Eingang und wir fuhren mit dem Taxi nach Hause. Unterwegs schrieb ich meiner Tochter, dass sie für eine Person mehr den Tisch decken sollte.
„Die Sache mit Smilla geht dir nicht aus dem Kopf oder?“, fragte mich Sam irgendwann und ich seufzte. Stattdessen eine Antwort zu geben lehnte ich mich zurück und sah aus dem Fenster.
„Willst du drüber reden?“, fragte er. „Nein, will ich nicht“, fuhr ich ihn an und fluchte. „Sorry, ich wollte nicht….“. Wieder seufzte ich.
„Ist schon gut", erwiderte er sanft und klopfte mir auf die Schulter, während ich wieder aus dem Fenster starrte. Den Rest der Fahrt schwiegen wir.

FamilienbandeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt