Henry der Pechvogel

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Claires Vorsprechen war fantastisch gelaufen und Henry wäre beinahe geplatzt vor Stolz. Er hatte sie begleitet, sich aber im Hintergrund gehalten. Er wollte nicht, das die Jury von seiner Anwesenheit voreingenommen war, in ihrer Entscheidung.
Sie wollten Claire unbedingt. Aber da war die Sache mit dem Schulabschluss, auf den wir weiterhin bestanden. Sie hatten Claire aber ein tolles Angebot gemacht, Kurse besuchen zu können. Oder mit anderen Schülern üben zu können, wann immer sie wollte. Henry und ich waren damit einverstanden, solange Claires Noten keinen schlechten Einfluss darauf nehmen würden.
Die letzten Urlaubswochen hatten wir entspannt in London verbracht.
Ich war nun in Deutschland, klärte alles für den Umzug. Ich meldete Claire von der Schule ab, Ally vom Kindergarten. Und ich traf mich mit meiner Chefin. Die war alles andere als begeistert von meiner Schwangerschaft. Sie wollte ungern auf mich verzichten, aber weiter beschäftigen konnte sie mich nicht. Das war mir natürlich klar gewesen.
Henry hatte nicht mitkommen können, denn er musste für ein paar Tage nach Budapest zum Nachdreht. Einige Szenen waren im Nachhinein nicht optimal. Aber er würde in zwei Wochen wieder da sein, wenn Claire wieder zur Schule musste. Wir hatten bereits letzte Woche eine Schule für sie gefunden. Sie nutzte die letzte Woche hier in Deutschland, um sich von ihren Freunden zu verabschieden.
Ich stand nun in meinem Haus, das ich in drei Monaten räumen musste und stand vor der Entscheidung, was mit meinen Möbeln passieren würde. Oder wo ich das, was mit nach London sollte, unterstellen könnte, bis wir ein passendes Haus gefunden hatten. Und was musste unbedingt schon jetzt mit?
Zum Glück war Melli da und wir fuhren einige Sachen schon zu meinen Eltern, wo ich ein paar kleinere Möbel unterstellen konnte. Es war noch ein Haufen Arbeit und ganz ohne männliche Hilfe würde ich das in drei Monaten nicht schaffen. Auf Henry könnte ich die meiste Zeit nicht rechnen, denn der war ab Oktober in Amerika zum Dreh. Er würde einen Psycho Thriller drehen und ich war gespannt auf das Werk. Das Drehbuch hatte vielversprechend geklungen. Er hatte versucht, das Projekt zu schieben, aber da war nichts zu machen. Irgendwie würden wir das schon hinbekommen. Und Henrys Brüder hatten ihre Hilfe angeboten.
Nachdem wir die letzten Möbel für heute weggefahren hatten, holte ich für uns vier Mädchen eine Familienpizza, die wir in der Küche verputzten.
Anschließend brachte ich Ally ins Bett. Ich las ihr gerade eine gute Nacht Geschichte vor, als mich Claire rief. „Mama, dein Telefon!“
„Geh bitte ran. Ich komm gleich“, bat ich sie und ich hörte mein Telefon verstummen. Ich las Ally weiter ihre Lieblingsgeschichte vor, als Claire reinkam, das Telefon in der Hand.
„Es geht um Dad", sagte sie und ich schaute sie verwirrt an. Ich legte das Buch zur Seite. „Er ist vom Pferd gefallen und liegt nun im Krankenhaus“, berichtete sie und mir sackte das Herz in die Hose. Ich streckte die Hand nach dem Telefon aus und Claire gab es mir. Ich stand aus den Bett auf und hörte nun aufmerksam zu.
Henrys Assistent Daniel war am Telefon und er berichtete mir, was passiert war. Er war blöd im Steigbügel hängen geblieben. Unter Schmerzen in der Leistengegend wäre er ins Krankenhaus gebracht worden. Mehr Infos hatte er leider noch nicht, denn Henry wurde noch untersucht. Ich bedankte mich, verabschiedete mich und fluchte. „Mami, was ist mit Papi?“ fragte mich Ally und sah besorgt aus.
„Er ist vom Pferd gefallen und hat sich verletzt. Mehr weiß ich noch nicht, Spatz“, sagte ich sanft und Claire sah mich ängstlich an. „Es wird schon nicht so schlimm sein“, versuchte ich meine Mädchen zu beruhigen. „Ich werde gleich versuchen, ihn zu erreichen.“
Ich atmete tief durch und verbarg mein Zittern. Mein Handy vibrierte und ich hatte eine Nachricht von Henry. „Hey, Honey. Tut mir leid, ich kann grad nicht telefonieren. Hat Daniel dich erreicht?“ Erleichtert atmete ich aus. „Er hat geschrieben. Seht ihr, halb so schlimm", lächelte ich und bat Ally, dass sie nun versuchen sollte zu schlafen. Widerwillig legte sie sich hin.
„Ja hat er. Was machst du für Blödsinn? Wie geht es dir?“ schrieb ich und ging mit Claire nach unten, wo Melli noch in der Küche saß. „Was ist passiert?“ wollte sie gleich wissen. „Henry ist vom Pferd gefallen“, erklärte ich und sah wieder aufs Handy, als es in meinen Händen vibrierte. „Geht so. Schmerzen sind mittlerweile auszuhalten. So wie es aussieht ist es wohl ein Leistenbruch.“
Ich seufzte. „Leistenbruch", murmelte ich und setzte mich.
„Schöne Scheiße. Und nun?“ fragte ich ihn und bekam zunächst keine Antwort. Vermutlich sprach er grad mit den Ärzten.
Ich rieb mir müde übers Gesicht. Das hatte uns noch gefehlt. Am liebsten würde ich sofort zu ihm fliegen. Ich war müde, der Tag war lang und anstrengend gewesen. Und nun das. Wo war er bloß mit seinen Gedanken gewesen?
Melli verabschiedete sich für heute und würde morgen gleich wiederkommen. Wir wollten schon mal Kleinkram einpacken und aussortieren.
Claire und ich machten es uns noch etwas auf dem Sofa gemütlich. Schlafen konnte ich eh noch nicht. Zuerst musste ich wissen, was bei Henry Sache war.
Wenig später rief er mich an. Er klang müde und erschöpft. Er hatte während einer Drehung zu viel Schwung genommen und war gefallen. Er würde morgen operiert werden und könnte dann vielleicht schon wieder das Krankenhaus verlassen. „Und dann?“ wollte ich wissen. „Keine Ahnung. Fliege ich nach London, denke ich.“
„Du wirst nicht mal deinen Koffer schleppen dürfen“, erinnerte ich ihn. „Warum kommst du nicht hier her? So hab ich dich im Auge und du kannst mir wenigstens beim Einpacken von Kleinigkeiten helfen“, schlug ich vor. „Ich werde zu dir überfliegen und aufpassen, das du heile hier ankommst.“
„Das ist doch totaler Stress für dich“, gab er zu Bedenken.
„Das schaff ich schon. Du würdest es genauso machen.“ Mit einem Seufzer gab er sich geschlafen. Wir verabschiedeten uns und ich sah nach Flügen. „Ich hoffe, deine Großeltern haben Zeit für euch“, seufzte ich. „Mach dir keine Gedanken Mama. Melli hat doch auch frei. Und zur Not kann ich auch für ein paar Tage alleine mit Ally bleiben.“
„Kommt gar nicht in Frage. Ich lasse dich sicher nicht mit Ally alleine.“
Ich telefonierte mit Melli, die sich einfach für die nächsten Tage hier einquartieren würde. Sie freute sich auf die Zeit mit den Mädchen.
„Ich pack dann mal ein paar Sachen. Mein Flieger geht heute Nacht. Melli bringt mich zum Flughafen“, erklärte ich und erhob mich schwerfällig. Ich war echt erledigt.
Nachdem ich ein paar Sachen gepackt hatte, legte ich mich zu Ally ins Bett, damit ich noch ein bisschen Zeit mir ihr hatte. Melli würde in zwei Stunden kommen und mich zum Flughafen bringen. Vielleicht bekam ich noch ein bisschen Schlaf.

Was für eine Scheiße. Wir waren fast fertig mit dem Dreh. Vielleicht noch zwei oder drei Tage. Irgendwie schien der Wurm drin zu sein, und immer war ich Schuld, das der Dreh pausieren musste.
Nur ein unachtsamer Moment und ich hatte unten gelegen. Mein Fuß hing im Steigbügel und das Pferd war noch ein paar Meter weiterlaufen. Wenigstens, so die Aussage des Regisseurs, war die Szene im Kasten. Na Hauptsache. So viel Körpereinsatz sollte sich ja auch lohnen.
Jetzt lag ich in einem beschissenen Krankenhausbett und würde morgen operiert werden. Danach war ich noch ein paar Wochen außer Gefecht gesetzt. Mit sechs Wochen sollte ich rechnen. Na immerhin war nicht mehr passiert. Das schlimmste an der Sache war für mich allerdings, das ich Smilla nun nicht wirklich unter die Arme greifen konnte. Sie sollte nicht schwer heben und ich konnte nun auch nicht. Nun waren wir wirklich auf die Hilfe meiner Brüder und unseren Freunden angewiesen. Auch das Smilla morgen kommen würde, wurmte mich einerseits. Und andererseits war ich froh, sie morgen bei mir zu wissen. Smilla würde schon heute Nacht herfliegen und wäre vermutlich hier, noch bevor es losging.
Ich schloss die Augen und hoffte auf ein paar Stunden Schlaf. Ein bisschen Muffensausen hatte ich ja schon. Meine letzte Operation war etwa dreißig Jahre her. Da hatte ich damals die Mandeln rausbekommen. Und das sich im Krankenhaus gelegen hatte, war ungefähr genauso lange her gewesen.

Die Nacht war so schnell vorbei, das ich das Gefühl hatte, kaum geschlafen zu haben. Schon um sechs Uhr wurde ich geweckt und für die OP vorbereitet.
Smilla kam wenig später, als ich bereits im OP Hemdchen und Venenzugang im Handrücken im Bett lag und auf die Operation wartete. Es klopfte zaghaft an der Tür und ich wusste sofort, dass sie es war. Sie schob schüchtern den Kopf zur Tür hinein und ich lächelte, als ich sie sah. Sie schloss die Tür hinter sich und als ich die Hand nach ihr ausstreckte, kam sie zu mir geeilt und ich zog sie in meine Arme. Sie hatte mir gefehlt. „Schön, das du da bist“, lächelte ich müde. Das Medikament wirkte bereits. „Wie geht’s dir?“, fragte sie mich
„Geht eigentlich. Müde", murmelte ich und hielt ihre Hand, als sie sich zu mir setzte. „Konntes du nicht schlafen?“ fragte sie besorgt. Das sie selbst müde aussah musste ich ihr wohl nicht sagen. Mir war klar, dass sie seit Stunden kein Auge zugemacht hatte. „Nicht wirklich, aber vermutlich mehr als du“, vermutete ich. „Ich möchte, das du nachher ins Hotel fährst und ein bisschen schläfst, während ich hier meinen Rausch ausschlafe“, sagte ich und es war keine Bitte. Sie verzog ihr Gesicht. „Versprich mir das, Honey. Du brauchst deinen Schlaf.“ Ich strich ihr über die Wange und nickend gab sie sich geschlagen. Ich schmunzelte. „Braves Mädchen.“ „Wo ist Kal?“ Wollte sie wissen. „Bei Daniel. Er kümmert sich um ihn, keine Sorge.“
Ein paar Minuten lang hatte sie ihren Kopf an meine Schulter gelegt und wir beide schlossen die Augen. Dann kam die Schwester, um mich abzuholen. Smilla erhob sich und gab mir einen letzten Kuss,  bevor ich sie allein lassen musste. „Fahr jetzt“, forderte ich und sie verdrehte die Augen, gab mir aber ein OK.
Schon kurze Zeit später hatte man mich ind Jenseits befördert und ich bekam nichts mehr mit.

Als ich meine Augen das nächste mal öffnete, lag ich in einem anderen Zimmer. Überall piepte es und summte. Also, so konnte man auch nicht schlafen. Sofort war die Schwester wieder da und fragte mich in ihrem gebrochen Englisch, wie es mir gehen würde. „Müde, aber ok", war meine Antwort. „Wann darf ich gehen?“ die nächste Frage. Die Schwester lachte. „Schlafen sie sich erst mal aus, dann bespricht der Arzt alles mit ihnen.“ Ich nickte und schloss meine Augen wieder, schlief traumlos.
Als ich ein weiteres Mal aufwachte, lag ich wieder in dem Zimmer, in dem ich bereits die Nacht verbracht hatte. Und Smilla war da. Sie war in ihr eBook vertieft und ich schmunzelte. „Du liest doch nicht ohne mich weiter, oder?“ riss ich sie aus ihren Gedanken und sie schreckte hoch. „Henry, verdammt! Musst du mich so erschrecken?“ beschwerte sie sich, lächelte aber. „Hey", murmelte sie dann, beugte sich über mich und legte ihre Lippen auf meine. Hm… wie ich das vermisst hatte.
„Wie  gehts dir?“ fragte sie mich zum x-ten mal in den letzten Stunden. Ich checkte mich einmal selbst. „Ganz ok", berichtete ich schließlich.  Smilla lächelte erleichtert. „Hast du geschlafen?“ Wollte ich wissen. „Ja, ein bisschen.“ Immerhin. „Boar, is mir warm“, bemerkte ich irgendwann und schlug die Decke weg. „Sexy", schmunzelte Smilla und ich sah an mir runter. Ich hatte immernoch dieses olle OP Hemd an. „Oh ja. Wahnsinnig sexy" gab ich zurück. „Du hast der Schwester sicher den Tag ihres Lebens geschenkt. Sie hatte volle Einsicht", kicherte Smilla. „Sie hat mich sogar rasiert" berichtete ich und Smilla musste lachen, in dem Moment, als der Arzt und die Schwester das Zimmer betraten. Smilla wurde tatsächlich ein bisschen rot.
Der Doc untersuchte mich, fragte, wie es mir ginge und berichtete, das alles gut gelaufen sei. Mein Puls und Blutdruck waren in Ordnung, weshalb ich schließlich das Krankenhaus verlassen durfte. Ich sollte mich spätestens in zwei Tagen wieder bei einem Arzt vorstellen. In den nächsten drei Wochen durfte ich nicht schwerer als fünf Kilo heben und mindestens sechs Wochen keinen Sport treiben. Spaziergänge wären in ein bis zwei Wochen möglich, je nach Befinden.
Das Aufstehen war eine kleine Herausforderung, die ich aber dank der Schwester meisterte. Beim Anziehen ließ ich sie mir allerdings nicht helfen. Das übernahm Smilla. Daniel hatte mir gestern ein paar meiner Sachen hergebracht, denn ich war hier gestern als Geralt von Rriva eingeliefert worden. Jetzt verließ ich das Krankenhaus als Henry Cavill mit meiner Freundin an der Seite. „Wann fliegen wir zurück?“ fragte ich sie, als wir in meinem Leihwagen saßen. Daniel hatte diesen zum Hotel gefahren, damit Smilla ihn nutzen konnte. „Ich hab noch nicht nach Flügen geschaut, weil ich nicht wusste, wie es dir nach der Operation geht. Ich denke, wir sollten bis morgen warten. Gönn dir wenigstens diesen Tag Ruhe“, entschied sie und ich erhob keinen Einwand. Die Schmerzen hielten sich in Grenzen, weil die Schmerzmittel noch wirkten, aber das könnte sich noch ändern, wie man mir berichtet hatte. Aber ich hatte Medikamente mitbekommen.
Smilla parkte in der tiefgerage des Hotels und ich nahm freiwillig den Fahrstuhl.  Sonst lief ich auch gern Treppen, aber das vermied ich nun, so gut es ging, auf Anweisungen des Arztes.
Im Appartemen des Hotels legte ich mich gleich freiwillig aufs Sofa. Das war doch alles ganz schön anstrengend. „Hast du Hunger?“ fragte mich Smilla. „Irgendwie nicht. Vielleicht später“, murmelte und schaltete den Fernseher an. Ich  blieb bei einer Doku hängen und ich hörte Smilla telefonierte. Mit Claire, wie ich vermutete. Aber richtig bekam ich das gar nicht mit, denn ich schlief schon wieder ein.

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