Bangen

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„Nick, du musst ins Krankenhaus fahren. Da stimmt was nicht.“ Claire hatte mich angerufen und klang panisch. „Langsam, Claire. Was ist passiert?“, fragte ich ruhig, jedoch alarmiert. „Dad hat mich angerufen. Das Baby ist da…“. „Das ist doch toll“, unterbrach ich sie, doch dann hörte ich sie weinen. „Ich hab gehört, dass Dad Angst bekommen hat. Dann hab ich was klappern gehört und irgendwas mit viel Blut, dann gar nichts mehr. Bitte Nick, du musst hinfahren“, schluchzte sie. „Claire, Süße, beruhige dich. Ich werde hinfahren“, beruhigte ich sie und verabschiedete mich. Das klang ziemlich alarmierend und wenn wirklich etwas schief gelaufen war, wollte ich nicht, dass mein Bruder da allein durch musste. Ich verabschiedete mich von meiner Frau und fuhr eilig ins Krankenhaus, das zum Glück nur wenige Minuten entfernt war. Ich lief schnellen Schrittes durch die Flure in den Kreißsaal. Bereits als ich die Tür dahin öffnete hörte ich Henry. Er brüllte wütend und verzweifelt. Mir sackte das Herz in die Hose und ich kam um die Ecke, sah, das Henry gegen drei Krankenhausmitarbeiter ankämpfte, die krampfhaft versuchten, ihn festzuhalten. In dem Moment wurde eilig ein Bett an mir vorbeigeschoben und ich erkannte Smilla darauf. Ich hörte Henry ein weiteres Mal brüllen, was mich letzten Endes wachrüttelte und ich mich vor Henry stelle. „Lasst ihn los", bat ich und die drei ließen ihn los. Henry wollte losstürmen, doch ich packte ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. „Guck mich an", forderte ich, doch er schien durch mich hindurch zu schauen, blanke Panik im Blick. „Henry", sagte ich und drückte mit den Fäusten nach. „Henry, verdammt, sieh mich an", sagte ich energisch und sein Blick klärte sich. Wut und Panik wichen Angst und Trauer. Ich ließ locker und er rutschte an der Wand hinunter auf den Boden. Kraftlos saß er da, die Arme über seine Knie hängend. Ich setzte mich dazu. „Was ist passiert?“ fragte ich vorsichtig, doch ich bekam keine Antwort. Ich ließ ihn einen Moment. Er starrte minutenlang an die Wand, bis er sein Gewicht in seinen Händen vergrub. Ich rechnete damit, dass er in Tränen ausbrechen würde, doch das tat er nicht. „Ich pack das nicht ohne sie", kam es schließlich von ihm und seine Stimme klang brüchig. „Henry…“, begann ich, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, was passiert war. Er sah mich an und ich schluckte. „Wenn ich sie verliere, dann…“, er brach ab und fluchte. „Du verlierst sie nicht“, sagte ich, obwohl ich nicht wusste, was geschehen würde. „Was ist passiert?“, fragte ich deshalb nochmal. „Sie hat einfach die Augen geschlossen…ihr Herz ist stehen geblieben und...“. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß selbst nicht, was passiert ist, aber da war überall Blut…“, flüsterte er beinahe. Scheiße. „Die Ärzte werden alles tun, um sie zu retten, Henry", besänftigte ich ihn und er starrte wieder an die Wand. In ihm war etwas gebrochen, das erkannte ich. Da war eine Leere in ihm, die nur die Gewissheit, dass es Smilla gut gehen würde, wieder füllen könnte. „Es wird alles gut.“, sagte ich und Henry nickte kaum merklich. „Wie geht es eurem Baby?“, fragte ich und versuchte ihn auf andere Gedanken zu bringen. „Ganz gut denke ich", sagte er, ohne mich anzusehen. „Wir haben einen Jungen", ergänzte er und ich sah ihn ganz kurz lächeln. Ich erhob mich und stellte mich vor ihm hin.  „Zeigst du ihn mir?“, versuchte ich es und Henry hob den Blick, sah mich an und nickte. Ich reichte ihm meine Hand und als er sie ergriff, zog ich ihn hoch.
Wir gingen rüber auf die Entbindungsstation und Henry erkundigte sich nach seinem Sohn. Eine der Schwestern führte uns zu den Neugeborenen und als Henry seinen schlafenden Sohn erblickte, schluckte er. Dann atmete er tief durch und hob den Kleinen ganz behutsam aus seinem Bettchen. „Hallo Mason", säuselte er liebevoll und streichelte sein winziges Händchen. „Mason also, hm?“, fragte ich und strich meinem Neffen über die Wange. Er war wirklich klein. „Mason Connor", klärte mich Henry auf. “Er ist bezaubernd. Wie seid ihr auf den Namen gekommen?“, fragte ich. „Unsere Mädchen. Ally hat Mason vorgeschlagen und Claire Connor.“, erzählte er leicht lächelnd, was mich beruhigte. „Er ist so klein. Wie groß ist er?“. „Ich weiß es gar nicht“, gestand Henry und ich schaute auf dem Zettel an seinem Bettchen. „47 Zentimeter steht hier. Und 2780 Gramm. Ein kleines Leichtgewicht.“ Henry nickte und seufzte. „Ich schaff das ohne Smilla nicht", flüsterte er erneut und drückte seinen Sohn an sich. „Du bist nicht allein, Henry. Egal was geschieht“, sagte ich und legte meine Hand auf seine breite Schulter. Henry war gute zehn Zentimeter größer als ich und wesentlich breiter, und doch wirkte er in diesem Moment klein und zerbrechlich. Er war mein kleiner Bruder und ich war hier um ihn zu unterstützen. Ich wollte ihm sagen, dass alles gut werden würde, dass es Smilla gut gehen würde, doch das konnte ich nicht. Das Einzige, was ich tun konnte, war ihm beizustehen.

Ich hatte alles wie durch einen Schleier gesehen und erst nicht realisiert, dass mein Bruder vor mir stand. Dann traf mich die schmerzhafte Erkenntnis, dass ich meine Frau verlieren könnte. Ich hatte sie gesehen, leblos und blass auf dem Bett. Wie man sie über den Flur geschoben hatte.
Ich hielt meinen Sohn an mich gedrückt und versuchte nicht in Tränen auszubrechen. Allein der Gedanke, Smilla wohlmöglich nie wieder sehen zu können, brach mir das Herz. Ich konnte ohne sie nicht Leben. Smilla war mein Leben, mein Ein und Alles. Der Schlüssel zu meinem Glück. Ich hatte sie gerade erst und sie nun zu verlieren, würde ich nicht verkraften.
Es schienen endlose Stunden zu vergehen, die ich bei meinem Sohn verweilte, wobei mir mein Bruder nicht von der Seite wich. Ich war dankbar, dass er hier war, denn ohne ihn hätte ich vielleicht etwas getan, was mir später leid getan hätte.
„Mr. Cavill?“ wurde ich aus meinen Gedanken gerissen und ich hob meinen Kopf. „Dr. Hoffman möchte Sie sprechen", sagte die Krankenschwester, die mich und Nick zu meinem Sohn gebracht hatte. Ich übergab meinen Sohn an sie und ging auf dem Flur wo ein Arzt stand, der scheinbar auf mich wartete. „Mr. Cavill?“, fragte er und ich nickte. „Ich habe Ihre Frau operiert“, begann er und ich schluckte.  Mein Herz schlug mir bis zum Hals. „Sie hat eine Menge Blut verloren, was wir zunächst nicht stoppen konnten. Wir haben ihre Gebärmutter entfernen müssen, und sie hat Bluttransfusionen bekommen.“
„Aber sie lebt?“, fragte ich kaum hörbar. „Ja. Sie ist auf der Intensivstation und wird noch eine Weile schlafen, aber sie wird es schaffen“, sagte er und ich atmete hörbar aus. Ich taumelte leicht und Nick hielt mich fest. Mir fiel ein riesiger Felsbrocken vom Herzen. „Kann ich zu ihr?“, wollte ich wissen. „Natürlich. Folgen Sie mir.“
Auf der Intensivstation angekommen musste ich Krankenhauskleidung überziehen und ich wurde in ein spärlich beleuchtetes Zimmer gebracht. Smilla lag auf dem Bett, sämtliche Kabel und Schläuche hingen an ihr und mir zog es den Magen zu. Zögernd ging ich zum Bett und die Schwester, die kurz nach ihr gesehen hatte, ließ mich mit meiner Frau alleine. Smilla schlief und atmete ruhig. Ich setzte mich an ihr Bett und nahm ihre Hand, küsste ihren Handrücken. Ich wagte es nicht, den Blick von ihr abzuwenden, aus Angst, sie könnte aufhören zu atmen. Keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen hatte, aber irgendwann kam Nick ins Zimmer. „Lass uns nach Hause fahren, Henry. Lass deine Frau schlafen und gönn dir auch ein bisschen Ruhe“, redete er auf mich ein, aber ich wollte nicht gehen. „Deine Mädchen warten auf dich. Und du kannst jetzt eh nichts tun. Ihr geht es gut.“ Ich seufzte und erhob mich, hauchte ihr noch einen Kuss auf die Stirn.
Schweren Herzens ließ ich meine Frau allein und Nick fuhr mich zu sich nach Hause, wo Claire bereits auf mich wartete. „Dad!“, rief sie und kam auf mich zugelaufen, fiel mir in die Arme. Ich drückte sie an mich. „Du solltest in der Schule sein“, erinnerte sie und sie schniefte. „Nach deinem Anruf konnte ich nicht mehr in der Schule bleiben“, weinte sie und ich hielt sie fest an mich gedrückt. „Es ist alles gut“, beruhigte ich sie und sie sah zu mir auf. „Was ist denn passiert?“, wollte sie wissen. „Sie hat viel Blut verloren, aber die Ärzte haben sie operiert“, fasste ich mich kurz und wischte meiner Tochter die Tränen weg. „Das Gästezimmer ist fertig, Henry. Du solltest versuchen ein wenig zu schlafen", sagte meine Schwägerin und drückte mich einmal. Ich nickte und merkte, wie müde ich war.
Ich legte mich wie ich war ins Bett und starrte eine Weile an die Decke. Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen, doch ich fand keine Ruhe. Ich drehte mich von einer Seite auf die Nächste. Smilla ging es gut, und doch hatte ich das dringende Bedürfnis bei ihr zu sein. Ich fluchte. An Schlaf war einfach nicht zu denken. Seufzend erhob ich mich und rieb mir das Gesicht.  Ich war fix und fertig, aber ich kam einfach nicht zur Ruhe. Ich wollte zu meiner Frau.
Als ich nach unten kam, entdeckte mich Ally und kam gleich auf mich zugelaufen. „Papi", freute sie sich und ich hob sie hoch, drückte sie fest an mich. „Darf ich meinen kleinen Bruder sehen?“, fragte sie ungeduldig. „Ja, bald Spatz. Versprochen“, versicherte ich ihr. „Ich will zu Mami", sagte sie dann und ich seufzte. „Das geht noch nicht, Monsterchen. Mami ist operiert worden. Morgen kannst du sie bestimmt sehen", besänftigte ich sie. „Ich werde gleich zu ihr fahren und schauen, wie es ihr geht.“
„Du solltest dich doch ausruhen", tadelte mich meine Schwägerin. „Ich habs versucht. Ich kann nicht schlafen", erklärte ich. „Nick, kannst du mich hinfahren? Mein Auto steht noch da. Und ich sollte Mom anrufen, und meine Schwiegereltern…wo ist mein Handy?“, fragte ich und tastete meine Hose ab und suchte auch in meiner Jacke. „Wo hast du es zuletzt gehabt?“, fragte Nick. „Als…. Als ich Claire angerufen hab. Ich weiß nicht, wo es danach hingekommen ist.“, murmelte ich. „Ich fahr dich zum Krankenhaus, du gehst zu deiner Frau und ich frage im Kreißsaal nach, ob was gefunden worden ist. Ich denke nicht, das es weggekommen ist", beruhigte er mich. „Und Mom weiß bereits Bescheid.“

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