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Hold me while you wait - Lewis Capaldi
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Alex Black

Der rauschende Wind wehte in den Blättern des Waldes und streichelte mein Gesicht. Ich konnte einfach nicht schlafen, daher bin ich in mein Baumhaus gegangen und sitze jetzt hier. Vielleicht ist es in meinem Bett gemütlicher, aber genau hier fühle ich mich wirklich wohl. Das alte Holz und die Höhe, es ist genau der Ort, an dem ich meinen schönsten Kuss erlebt habe und ich will es wieder fühlen.

Aber ich verhalte mich zurzeit wie ein arroganter Arsch und will das ändern, wenn ich doch nur zugegeben hätte, dass ich mich auch in Emma verliebt habe. Ja, sie hat sich verliebt. Das hat sie mir gesagt, bevor sie gegangen ist.
Und jetzt bin ich hier alleine, in meinem Baumhaus und hätte Emma am liebsten bei mir.

Ich wünsche mir, dass sie in meinen Armen liegt, meine Arme um ihren wunderschönen Körper, ihr Gesicht meinen ganz nahe. Ich könnte durch ihr weiches leicht lockiges Haar fahren, ihre Lippen küssen, den süßlichen Geschmack in mich aufnehmen und ihre Gegenwart genießen.

Ich würde ihren Herzschlag an meinem spüren und unser Atem würde sich zu einem vermischen. Wir würden eins werden, zusammen verschmolzen, gegen den Rest der Welt. Alles, wenn sie bei mir wäre.
Wäre.

Meine Augen fingen an zu brennen, die Tränen bahnten sich einen Weg aus meinem Augenwinkel und kullerten langsam über mein Gesicht. Leise schluchzend vergrub ich meinen Kopf in meinen Händen und versuchte den Schmerz über mich ergehen zu lassen. Die Trauer, die Bedrückung und diese tiefe Sehnsucht.

Ich weiß, dass ich nur bei ihr vollständig sein kann und sie genau das ist, was ich brauche.

Emma Roberts

Ruckartig schreckte ich aus meinem Schlaf hoch. Ich hatte wieder so einen schlimmen Alptraum. Und jetzt war alles realer und viel normaler im Traum, nicht so weit entfernt, sondern jedes einzelne schreckliche Erlebnis meiner Vergangenheit verletzte mich noch mehr.
Der Tod von Alice, viel schlimmer.
Der Tod meiner Eltern, viel schlimmer.
Die Stalking-Sache, viel viel schlimmer.

Ich verstand einfach nicht, warum jetzt alles wieder hochkommen musste. Warum mich die Erinnerungen wieder einholen und vernaschen würden.
Der Blick auf meine Uhr verriet, dass es mitten in der Nacht war. An schlafen war jetzt nicht zu denken. Obwohl es ein Uhr nachts war, konnte ich die ganzen Erlebnisse nicht einfach sitzen lassen.

Ich tapste zu meinem Schrank und zog mir einen Pullover über. Mit Indianerschritten schlich ich die Treppe runter und schlüpfte in meine Schuhe.
Vorsichtig öffnete ich die Tür und trat an die kalte Mailuft raus. Ich hatte den Frühling definitiv unterschätzt.

Ich lief die leeren Straßen entlang, wo weit und breit keine Menschenseele zu finden war.
Mein Weg führte runter ans Ufer zum weiten Meer.
Die Wellen rauschten beruhigend, also ob sie wüssten, wie mein Leben im Moment komplett aufgewühlt und umgedreht war. Ich hatte in den letzten zweieinhalb Monaten seit dem ich im Internat bin wirklich ein 180-Grad-Wende erlebt.

Ich setzte mich auf die knirschenden Steine am Strand und schaute an den Horizont. Im Meer war alles so weit und frei, während ich das Gefühl hatte, dass bei mir alles enger wurde.
Ich brauchte wirklich das Gespräch mit Alex, damit wir uns aussprechen können um dann zu einer Lösung zu kommen. Entweder ja oder nein und nichts dazwischen.

Und ich musste unbedingt mit meinen Freunden reden, sie wissen nur die halbe Wahrheit von meinen Erlebnissen und ich habe sie auch in den Glauben gelassen, dass ich keinen Kontakt zu meiner Schwester habe und wir ein gebrochenes Verhältnis haben und ich möchte auch, dass es vorerst so bleibt, dass sie mir diese Lüge glauben.
Und ich muss mit Chloe sprechen, damit ich wenigstens mal weiß, was wirklich los ist.

Mein Blick ging nach oben auf den vollen Mond, wie er über der Wasseroberfläche das Licht reflektierte. Und ich wollte nicht schon wieder weinen, aber ich ließ es zu, dass die stillen Tränen meine Wangen hinunterliefen.

Wenn Alex doch nur da wäre, mit mir meinen Schmerz durchstehen würde. Er würde mich halten, mich küssen, seine starken Arme würden mich in jeder Situation halten und alles wäre perfekt.
Ich würde seinem Herzschlag lauschen, seine beruhigende Wärme wäre bei mir und er würde jede Träne verstehen.
Meine Brüder auch, aber wenn man sich hoffnungslos verliebt hat, dann ist die Sehnsucht noch größer zu dem Menschen, dem dein Herz gehört.

Seufzend stand ich wieder auf und ging zurück zu unserem Haus. Leise streife ich meine Schuhe von meinen Füßen und lege mich wieder in mein Bett.

Am frühen Morgen tapste ich in die Dusche und ließ mich von dem warmen Wasser berieseln. Eigentlich hatte ich mir den Besuch Zuhause als entspannt und lustig vorgestellt, aber wenn ich schon nach dem ersten Abend das Gefühl habe, dass etwas nicht stimmt, dann will ich nicht wissen, was noch kommen wird.

Ich dachte eigentlich auch immer, dass Ethan das nie so ernst nehmen würde, wenn ich mich tatsächlich verliebt habe. Aber seitdem ich ins Internat gekommen bin, da haben sich auch alle drei meiner Brüder verändert und sind ganz komisch. Ich meine, seit wann will Clyde wissen, ob es mir gut geht? Ja, er erkundigt sich schon danach, aber nicht in diesem Tonfall. Ich verstehe sie einfach nicht mehr.

Vor der Badezimmertür hörte ich Schritte gehen, wahrscheinlich Ethan.
Irgendwann kamen Schritte dazu, die wahrscheinlich zu Clyde gehörten.
"Hast du auch das Gefühl, dass Emma komisch ist?", flüsterte mein ältester Bruder.

"Also wir sind ja auch ein bisschen komisch", erwiederte Clyde ironisch.
"Boah, du weißt was ich meine", gab er wieder genervt von sich.
"Ja, ein bisschen schon. Sie taucht wie aus dem Nu auf und sie war auch in Alice' Zimmer und hat ihr altes Tagebuch gelesen. Sie war danach ganz aufgelöst, ganz anders als normalerweise. Ich glaube, sie sucht etwas in der Vergangenheit", schilderte Clyde die Situation.

"Gestern Abend habe ich noch mit ihr geredet, sie war ganz anders und hat auch angedeutet, dass ein Junge gerade nicht ihr einziges Problem ist", wisperte dieser zurück.
Dann liefen die beiden weiter und so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte nicht mehr weiterlauschen.

Also hatten die Jungs wohl auch gemerkt, dass ich in einem ziemlichen Chaos steckte. Schauspielerin sollte ich nicht werden.
Ich zog mir meine Sachen an und ging dann runter zum Frühstück.

"Guten Morgen Emma, gut geschlafen?", rief Clyde erfreut, aber irgendwie konnte ich ihm die Sache nicht abkaufen.
Ich zuckte mit den Schultern, was immer ein eindeutiges Zeichen für einen Alptraum war. Sie kannten mich einfach zu gut.
"Ach Emma", verließ es seinen Mund und er legte den Arm um mich, als ich mich an den Frühstückstisch setzte.
Brian wälzte sich wahrscheinlich im Bett wie eine Tür in der Türangel herum. Einfach nur typisch.

Ethan schaute mich mit einem prüfenden Blick an, als ob er irgendetwas aus meiner Emotion herauslesen wollte.
"Aber warum hast du heute Nacht nichts gesagt?", fragte dieser verwundert.
"Müsst ihr euch in alles einmischen? Ich bin runter ans Meer und hab das Rauschen genossen, das hilft mir auch. Bei euch muss ich ja immer jede Einzelheit erklären", gab ich eine Spur zu bissig von mir.
"Du bist nachts unterwegs gewesen? Das ist viel zu gefährlich!", flüsterte er eindringlich.
"Es war keine Menschenseele unterwegs und seit wann gab es hier mal kriminelle Fälle und Ausgangssperren!", gab ich empört von mir.
"Aber Emma, du bist doch noch so jung-"
"Aha, ich bin zu jung, was habt ihr denn schon alles mit fast siebzehn gemacht? Ihr könnt also immer noch nicht euren Beschützerinstinkt ablegen und mal einsehen, dass ihr mich nicht wie Wachhunde in einem Gefängnis bewachen müsst", spuckte ich ihm ins Gesicht.

Mist, schon wieder so ein unnötiger Streit. Normalerweise streiten wir nie wegen solcher Belanglosigkeiten und vor allem nicht so schnell auf hundertachtzig.
Außerdem haben sie mir nie etwas verboten, wenn dann meine Eltern.

Aber woher nehmen sie sich das Recht darüber zu bestimmen, dass ich unser Haus und unseren Garten ohne ihre Erlaubnis nicht verlassen darf?!

"Ach, ihr kapiert das nicht", murmelte ich, stand auf und nahm mein Marmeladenbrot mit. Als ich schon um die Ecke war hörte ich Ethan: "Ich würde gern verstehen, wer hier was nicht kapiert", leise, aber für mich trotzdem gut verständlich.

Was stimmt in diesem Haus nicht? Warum sind alle so komisch gerade? Wenn ich doch nur wüsste, was in sie gefahren ist...

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