Kapitel 66 - Lesenacht

216 9 22
                                    

Überfordert und perplex verfolge ich seinen Wandel.
Die Atmosphäre am Tisch war erstickend. Wir warteten auf eine Reaktion von Mattia, während er meilenweit von einer Antwort entfernt schien. Meine Hand platzierte ich auf seinen Oberschenkel.

„Was ist los, Mattia?" , flüsterte ich und schaue ihn ängstlich an.

Er presste seine dunklen Augen zusammen. Die Frage meine Mutter der Stich in die erfrorenen Gebiete seiner Seele. Dass niemals Worte über seine Eltern seine Lippen verließen, sorgte unterschwellig schon immer für eine Verwunderung. Doch es tat mir weh, dass er so viele Wunden damit verband. Er blieb stumm, während ich meine Finger über sein Bein rollte.

„Setzen wir ihn nicht unter Druck." , sprach mein Vater.

Er sieht meine Mutter beschuldigend in die Augen, welche unwissend mit den Schultern zuckte: „Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ich mich über seiner Familie erkundige."

Mitgefühl und Verständnis lagen scheinbar nicht in der Waage ihrer Stärken und das machte mich wütend.

„lch muss an die frische Luft." , entschuldigte Mattia sich und verlässt das Haus und stellt sich höchstwahrscheinlich in den Garten.

Meine streichelnde Hand schüttelte er vorher ab und würdigt mich keines Blickes. Ich verstand nichts mehr von den vorgehenden Prozessen. In Anspannung gefangen, zwickte ich mir tief in meine Handflächen, um meine Tränen zu unterdrücken. Die Grenzen der Peinlichkeit waren längst überschritten, denn dieser Abend nahm eine ungewollt unangenehme Richtung an.

„Ich schaue nach ihm." , äußerte ich aufgewühlt und meine Eltern waren dankbar, dass Ich diese furchtbare Situation abbrach.

Im Hausflur zog ich mir herumfliegende Sandalen über. Ich hörte das leise Klirren des Geschirrs, was mir verriet, dass sie nun erleichtert abräumen. Nachdem ich laufend unser Haus umkreiste, gelang ich in den Hintergarten. Sein breitgebauter Körper stand einsam auf der dunklen Terrasse und blickt auf den Rasen. Ich betrachte seinen verspannten und stocksteifen Rücken, der wahrscheinlich bereits schmerzte. Je näher ich ihm kam, desto deutlicher wurde der Rauchgeruch. Der intensive Tabakduft beißt sich in meiner Nase fest, doch dies war meine kleinste Sorge. Meine Arme umwickelten seinen Oberkörper und ich stütze meinen Kopf an seinem unteren Schulterblatt ab. Eine Gänsehaut überzieht seine Statur und seine brettharten Muskeln enstpannen sich. Der Zigarettenqualm verlässt seinen Mund und mit dem Rauch sein tiefwurzelnder, und mir unbekannter, Frust. Ich genoss die Stille und würde am liebsten auf ewig in dieser Position verharren. Aber meine Ungewissheit triumphierte: „Was belastet dich?"

Er zerdrückt den Stummel seiner Droge und massiert sich seine klopfenden Schläfen. Meine Umarmung löste ich auf, um mich gegenüber von ihm hinzustellen. Sein Gesicht nahm ich ihn meine kleinen Hände und zwinge ihn somit in meine Augen zu sehen. Meine Pupillen weiten sich, als ich die Stärke und den eisernen Halt nicht wiedererkenne.

„Was ist mit deinen Eltern?" , fragte ich flüsternd und ruhig, denn die Verletzlichkeit, die ich in seinen Blicken sah, ließ mich über jedes meiner Töne ein zweites Mal nachdenken.
„Sie leben." , sagt er und nimmt mir die Frage vorweg, die eigentlich auf meiner Zunge brannte.

Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Aussage umgehen soll. Wo befinden sie sich, wenn nicht bei ihrem einzigen Sohn?

„Ich wüsste auch nicht, was ich dazu sagen sollte. Alles gut, mein Herz." , sagte er tröstend.

Er küsste liebevoll die Innenfläche meiner Hand, die ich auf seine Wange schmiegte. Dabei wusste ich nicht, an wen er diesen Trost richtet - an sich selbst oder an mein unbeholfenes Ich.

„Doch du wüsstest es. Du weißt immer, was du sagen musst." , lachte ich, in der Hoffnung, dass Lockerung einkehrt.

Ein kleines gebrochenes, fast unsichtbares Lächeln prägte sein Gesicht.

„d/N, komm her!" , ruft mein Bruder und ich lausche seinen trampelnden Schritten, die das Haus verlassen.
„Geh hin." , befiehl Mattia mir.
„Du bist wichtiger." , sagte ich, denn in seiner Gefühlslage ist Einsamkeit eine Höllenqual.
„Ich verschwinde ja nicht. Ich bin auch später da." ,scherzte er.

Ich festigte meinen Griff an seinem Gesicht und küsse ihn sanft. Mit schnellem Tempo laufe ich in den Vorhof unserer Hauseinfahrt und sehe meinen zornigen Bruder, der mit seinem Bein wippt.

„Ich halte es nicht mehr aus." , schoss es aus ihm heraus.
„Was ist los mit dir?" , fragte ich ihn planlos und mein Puls ist mittlerweile aus der Ruhe gekommen.
„Schämst du dich nicht? Was mit mir los ist? Meine Schwester ist eine ehrenlose Affäre!"

|| oop Elias hat wohl erfahren

𝑯𝒆𝒓𝒛 𝒐𝒅𝒆𝒓 𝑽𝒆𝒓𝒔𝒕𝒂𝒏𝒅 // 𝑴. 𝑷.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt