46 - wütende Mutterdrachen
Kinder! WAS IST HIER DENN PASSIERT?! RÄUMT DAS SOFORT AUF!"
Alarmiert hiefte ich meinen Kopf von dem zu bequemen Kissen und riss die Augen auf. Wer hatte geschrien? Von wo wurden wir angegriffen!?
Missmutiges Schimpfen im Erdgeschoss, das man bis hier nach oben hören konnte, brachte mich zur Besinnung. Meine Mutter hatte offenbar das Chaos im Wohnzimmer entdeckt.
Meine Eltern und die anderen Rudelmitglieder hatten es sich schon lange angewöhnt, mit Ohrstöpseln zu schlafen. Die feinen Ohren eines Werwolfs hatten auch eine Schattenseite. Man wurde nachts ständig wach, es brauchte nur jemand aufs Klo zu gehen oder zum Trinken nach unten in die Küche laufen. Dementsprechend hatten sie von dem ganzen Trubel gestern nichts mitbekommen.
Ich stöhnte laut auf und ließ mein Gesicht wieder im Kissen vesinken. Erstaunlicherweise waren die anderen nicht mal aufgewacht, obwohl Mams Geschrei ziemlich laut gewesen war. Ich war gerade kurz davor wieder wegzudämmern, als wütendes Stampfen auf dem Flur mich richtig wachmachte. Unsere Mutter war anscheindend kurz vorm explodieren.
Ich wappnete mich innerlich. Mam riss wie eine Furie die Zimmertür auf und setzte an, lautstark etwas zu brüllen, als sie die sich bewegenden Bettenhaufen entdeckte. Sofort wurde ihre Miene freundlich und sie lächelte: "Oh, ich wusste nicht, dass die Gäste noch da sind. Es ist schon elf Uhr morgens, ihr solltet langsam mal aufstehen!" Ihr Ton klang so freundlich, als wolle sie jemanden überzeugen, warum genau diese Mietwohnung oder dieses Haus perfekt für sie zum Verkauf ist. Ihr Lächeln wirkte so echt, dass mir die Kinnlade runterklappte. Wie hatte sie sich so schnell beruhigt? Normalerweise bauchte sie erst mal einen Tee oder ein Entspannungsbad, bevor sie nicht mehr versuchte, uns umzubringen, wenn wir mal wieder etwas angestellt hatten. Doch dann traf mich ihr Blick und ich konnte die brodelnde Lava hinter ihrer Fassade erkennen. Ich schluckte. Uns würde später noch ein Donnerwetter erwarten, das war sicher.
"Ist ja gut, ich wecke sie." ,murmelte ich fast schüchtern. So vorlaut ich auch zu anderen Menschen war, ein Blick meiner Mutter machte einen Wolf zu einem ängstlichen Welpen. Sie drehte sich noch ein mal mit einem strahlenden Lächeln, das mir richtig Angst machte, um und verschwand durch die Tür, die sie vielleicht ein wenig zu laut zuschlug.
Durch das Knallen wurden Luca und Sophia wach, die sich verwirrt umsahen. "Hopp hopp, aufstehen!" meinte ich laut. Doch der Rest der Runde schlief einfach weiter. Es war ein hartes Stück Arbeit, doch nach einer halben Stunde des Aufweckens, zeigten sich erste Erfolge. Ich hatte es geschafft, dass jeder zumindest aufrecht in seinem Bett saß und nicht mehr in Gefahr lief, einzuschlafen. Eine weitere halbe Stunde später waren die Bäder endlich nicht mehr blockiert und die Tür des Schlafzimmers, die dank des Chaos-zimmers nicht mehr aufging, konnnte auch wieder geöffnet werden, da sich endlich jemand dazu bequemte, den Haufen aus Decken, Rucksäcken und einer Matratze wegzuräumen.
Das Packen stellte auch ein Problem dar. Jeder hatte im Laufe des Abends irgendwas aus seinem Rucksack geholt, dabei noch etwas anderes mit herausgerissen und nun war das ganze Zeug überall verstreut und keiner wusste mehr, wem was gehörte. Nach einigen Streitschlichtungen wagte ich mich schließlich aus dem Zimmer, um nach Luca zu sehen, der bestimmt seit einer dreiviertel Stunde im Garten Forscher spielte und sich dabei bestimmt den Hintern abfror. Er hatte nur Stiefel und eine Winterjacke über seinem Pyjama an und kniete trotzdem im Schnee. Ich seufzte genervt und riss die Terassentür auf.
Luca erschrak und fiel in den Schnee. Ich begann prustend zu lachen, stiefelte dann jedoch rüber und half ihm hoch.
"Wie lange willst du hier bitte noch bleiben?" Meinte ich kichernd.
"Lach nicht! Das ist ein bedeutendes Ereignis! Dieser Wolf scheint eine Verbundenheit zu Menschen zu haben! Das muss untersucht werden!"
Ich schob ihn kraftvoll richtung Haus. "Ja ja ja. Das kannst du auch in zehn Jahren noch untersuchen, jetzt geh erst mal rein bevor dir noch Körperteile abfallen." Er fügte sich resigniert und lief die Treppe hoch. Ich blieb unschlüssig unten stehen. Ich vertraute einfach mal darauf, dass dort oben gerade niemand getötet wurde, und schlurfte ins Wohnzimmer.
Jetzt bei Tageslicht sah die Situation noch schlimmer aus. Einzelne Chipsbrösel waren regelrecht in den Teppich einmassiert worden und überall lag Müll herum. Hoffentlich konnte ich unsere Mutter ein wenig besänftigen, indem ich schon mal aufräumte. Ich schnappte mir also gewissenhaft einen Sack aus der Kücke und begann die Chipstüten, Getränkedosen, Popcornverpackungen und den anderen Müll hineinzustopfen. Er wurde ziemlich schwer und ich brachte ihn zur Garage, neben der die Mülltonnen standen. Als ich durch die Haustür wieder ins Haus wollte, ging sie unvorhergesehen auf und jemand lief gegen mich. Es war Luca. Ich knallte schmerzhaft zu Boden.
"Oh, du gehst schon? Danke für die nette Verabschiedung!", meinte ich spöttisch von der Türmatte aus. Kopfschüttelnd stand ich auf, doch sobald ich mein Gleichgewicht gefunden hatte, schob sich Luca hinter mich und meinte: "Oh gott, beschütz mich!"
Ich runzelte die Stirn. Wovor denn? Im nächsten Moment wusste ich es. Eine sehr sehr wütend aussehende Michelle stürmte die Treppe runter. "Luca! Gib mir sofort meinen Lipgloss wieder!" Er zuckte zusammen. "Ich hab dir doch schon gesagt, ich hab ihn nicht!"
"Lüg nicht! Ich hab dich genau gesehen du Dieb! Das ist der gute mit Erdbeergeschmack und ich will ihn wiederhaben!"
Da ich keine Anstalten machte, mich heldenhaft vor ihn zu werfen, quiekte Luca auf und huschte hinter mir hervor in die Küche. Bevor die beiden sich mit Bratpfannen bewaffnen konnten, schlichtete ich die Situation und gab Michelle ihren Lipgloss zurück, der die ganze Zeit auf dem Wohnzimmertisch gelegen hatte.
Nach und nach hatten alle ihr Zeug beisammen. Und als unsere Gäste bemerkten, dass es nun ans aufräumen ging, hatten alle natürlich plötzlich Stress. In aller Hast quetschten sie sich zur Tür hinaus, Clara und Luca riefen mir noch einen Abschiedsgruß hinterher, dann fiel die Tür zu.
Keine zwei Sekunden später begann unsere Mutter, oder sollte ich besser sagen, der wütende Drache ohne Erbarmen, zu schreien. Wir standen da wie begossene Pudel und ließen das Donnerwetter über uns ergehen. Schlussendlich mussten wir komplett alleine alles aufräumen.
Nach zwei Stunden Arbeit machte ich eine kurze Pause und wollte eigentlich nach oben gehen. Daraus wurde dann jedoch ein Kriechen. Nachdem ich wie eine Schnecke am Ende der Treppe aufs Parkett plumpste, kroch ich wie eine Raupe weiter und erreichte schließlich das Badezimmer. Ich wollte meine vom Putzmittel gereizten Hände eincremen, doch als ich die Tür vom Boden aus aufdrückte, sprang mir sofort etwas ins Auge, das ich ohne meinen seltsamen Blickwinkel niemals entdeckt hatte. Unter dem Badezimmerschrank lag eine Zahnbürste. Und sie gehörte nicht uns. Grinsend langte ich in den staubigen Zwischenraum hinein und fischte sie heraus. Es war eindeutig Lucas.
Mit neuer Energie sprang ich auf, lief die Treppen hinunter und schlüpfte in Jacke und Schuhe. Natürlich wurde ich von Mam aufgehalten, die wie ein Geier mit Adleraugen die Tür überwachte, doch nun hatte ich einen Grund, warum ich gehen konnte.
"Hey! Caro! Hast du etwa vor abzuhauen?" wie vermutet stellte sie sich mir in den Weg. Sie hätte sich auch einen Bart wachsen lassen können und dramatisch You shall not pass! brüllen können, das wäre genau so effektvoll gewesen.
"Luca hat seine Zahnbürste vergessen! Sorry, muss sie ihm bringen!"
Mit diesen Worten schlüpfte ich neben ihr vorbei und war aus der Tür hinaus, bevor sie etwas sagen konnte.Danke, Lucas Zahnbürste, ich schulde dir was.
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Wolf fact: Bei allen bekannten Fällen in ganz Nordamerika und Europa, bei denen ein Mensch Opfer eines Wolfsangriffes wurde, konnte entweder Fehlverhalten des Menschen (Provokation) oder Krankheit des Tieres (z.B. Tollwut) als Grund nachgewiesen werden. Kein Wolf würde in einer normalen Situation einen Menschen angreifen.
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Allein unter Menschen!
WerewolfNormal sein ist relativ. Jedenfalls für Caroline. Während andere bei dem Gedanken, ein Werwolf zu sein, vermutlich panisch geworden wären, hatte sie samt ihren drei Geschwistern bereits seit ihrer Kindheit Zeit, sich damit abzufinden. Werwolf von Ge...