75 - Abgrund
"Warum folgst du mir?", hauchte ich kraftlos. Der Wind trug meine Worte davon, doch irgendwie vernahm er sie trotzdem und legte mir vorsichtig eine Jacke über. Ich zuckte zusammen. "Weil du hier noch erfrierst, Caro. Bitte komm wieder nach drinnen."
Schnell stand ich auf und lief einige Schritte weg. "Nein. Mit dir gehe ich nirgendwohin.", flüsterte ich mit erstickter Stimme. "Hier nach draußen gehöre ich hin. Ich bin immernoch ein Monster." "Du bist kein Monster.", war Lucas ruhige Antwort. "Ach ja?", rief ich verzweifelt zurück. "Ich habe Menschen umgebracht, Luca. Ihre Leben beendet, einfach so! Und das schlimmste ist, dass ich nicht mal mehr Gewissensbisse deswegen habe!" Tränen liefen mir über die Wangen. Jetzt würde er gehen. Bestimmt. Ich wandte mich um und wollte davonlaufen, doch seine Stimme hielt mich auf. "Das ist mir egal." "Was?", hauchte ich. "Es ist mir komplett egal. Du wirst deine Gründe dafür gehabt haben." Ich starrte auf meine Hände, die mit einem Mal blutverklebt aussahen. "Vielleicht töte ich sogar dich einmal.", meinte ich kalt. "Dann ist es eben so."
Ich war wütend und verzweifelt. Wie konnte er so ruhig bleiben? Warum tat er nicht das, was ich erwartete und lief in Panik davon? Mit dieser Situation würde ich besser klarkommen."Zeig es mir."
Mir reichte es. Wenn er unbedingt wollte, dass ich ihm zeigte was für ein Monster ich war, dann würde ich das tun.
Aber zuvor hatte ich noch etwas zu erledigen. Etwas, das ich tun müsste, bevor er mich hassen und verabscheuen würde.
Mit einigen schnellen Schritten, bei denen mir der harsche Schnee die Füße aufschnitt, war ich bei ihm und hatte ihn vorne am Kragen gepackt. Ohne zu zögern drückte ich meine mittlerweile eiskalten Lippen auf seine. Darauf hatte ich ewig gewartet und es war eine unglaubliche Erleichterung für mich. Wir zitterten beide vor Kälte und mich wunderte, dass unsere Lippen nicht festfroren und klebenblieben. Doch ich trat ungehindert einige Schritte zurück und starrte ihn einfach nur an. Dann atmete ich tief die beißende Luft ein und verwandelte mich, während ich ausatmete. Sofort fühlte ich mich wärmer und begann Luca anzuknurren. Bevor er es realisiert hatte, sprang ich auf ihn und drückte ihn mit meinen Pfoten am Oberkörper in den Schnee. Mein Kopf war nur Zentimeter von seinem entfernt und er sah mir direkt in die Augen. Ich machte mich innerlich auf seine Reaktion gefasst. Ich war bereit, in den Abgrund zu fallen. Ich wartete nur noch auf den Stoß.
"Wusste ichs doch. Ich habs mir schon die ganze Zeit gedacht.", hauchte er und begann zu... zu lächeln?
Er hob seine Hand und näherte sie mir. Zuerst zuckte ich zurück, doch dann schaffte er es, seine Finger in mein Nackenfell zu graben. Bevor ich es verhindern konnte schlang er auch den anderen Arm um mich und umarmte mich.
Ich war absolut überfordert mit der Situation. Hasste er mich? Verabscheute er mich? Warum umarmte er mich?! Spielte er das alles nur und war in Wirklichkeit angewidert? Wollte er nur mein Vertrauen erwecken und mich dann in einen Zoo stecken?
Zog er mich nur an sich, um mich noch tiefer in den Abgrund zu stoßen?
Ich konnte das nicht. Mit einem tiefen Knurren, stieß ich ihn von mir und trat zurück. Luca starrte mich verdutzt an. "Hey.. Caro.. alles in Ordnung, ich tue dir nichts.", meinte er beruhigend und streckte eine Hand aus, als wolle er eine Katze anlocken.
Ich wich zurück. Ich hatte Angst. Große Angst. Er würde mich vielleicht akzeptieren, doch was wenn er es jemandem erzählte? Man würde mich einsperren und zur Schau stellen. Zitternd trat ich einen Schritt zurück. Die Ungewissheit brachte mich um. Ich hielt es nicht mehr aus. Mit einem heftigen Schnauben wandte ich mich um und rannte durch den Sturm davon. "Caro! Warte! Bitte!", hörte ich Luca rufen, bevor seine Stimme vom Sturmgeheul verschluckt wurde. Ich musste hier weg, erstmal meine Gedanken ordnen.
Orientierungslos rannte ich durch den Schnee. Alles schmerzte - mein Kopf, meine Pfoten, meine Haut - alles wurde vom eiskalten Wind zerfetzt. Wo sollte ich hin? In die Herberge zurück auf keinen Fall. Ich wollte allein sein. Doch hier draußen im Schnee war ich schutzlos. Selbst ich würde erfrieren, wenn ich nicht bald eine Höhle oder Ähnliches fand. Verunsichert trabte ich weiter, bis mir ein Einfall kam - die Hütte in den Bergen, zu der wir beim Schneeschuhwandern gelaufen war. Dort gab es einen Ofen und soweit ich mich erinnere, war sie nicht abgeschlossen. Ich wusste noch halbwegs, wo sie lag und machte mich auf den Weg. Der Aufstieg war sehr beschwerlich und mir ging es immer schlechter. Ich hatte keine Ahnung, ob ich mir das einbildete, oder ob ich tatsächlich immer wackeliger auf den Beinen war. Der Sturm blies mir starke Böen entgegen, als ob er verhindern wollte, dass ich zur Hütte kam. Ich war nicht ganz klar im Kopf, und doch erreichte ich irgendwann mein Ziel. Ich stieß die Tür als Wolf mit der Schnauze auf und warf sie als Mensch wieder hinter mir zu. Es war stockdunkel und ich konnte kaum etwas erkennen. Unsicher stolperte ich zu dem Ofen hinüber und verfrachtete einige Holzscheite und Papier hinein, das in einer Ecke lag. Praktischerweise befanden sich Feuerzeug und Streichhölzer in einer kleinen Box an der Wand. Obwohl das Feuer zuerst immer wieder aus ging, schaffte ich es schließlich, eine Flamme zustande zu bringen und somit den Raum zu erleuchten und langsam zu erwärmen. Zufrieden suchte ich mir das bequemste Stück des Fußbodens aus und rollte mich als Wolf zusammen. Während ich in die flackernden Flammen starrte, dachte ich nach. Entweder ich hatte mit meiner Tat mein Ende eingeleitet oder mir etwas gutes getan. Es hing alles von Luca ab. Würde er mich hassen? Oder mich akzeptieren? Ich dachte an seine Umarmung. Es hatte sich aufrichtig angefühlt - aber reichte das? Was, wenn er es jemandem erzählte, der nicht so nachsichtig war und ein Gewehr besaß? Würde der Dorfzug mit Fackeln und Mistgabeln aktiv werden? Ich wusste es nicht. Ich wusste garnichts mehr. Und mit diesen quälenden Gedanken sank ich in den Schlaf.
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Fun fact: Meine Freundin ist zu doof riechende Duftkerzen zu kaufen xD

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Allein unter Menschen!
Lupi mannariNormal sein ist relativ. Jedenfalls für Caroline. Während andere bei dem Gedanken, ein Werwolf zu sein, vermutlich panisch geworden wären, hatte sie samt ihren drei Geschwistern bereits seit ihrer Kindheit Zeit, sich damit abzufinden. Werwolf von Ge...