61 - Kaboom!

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61 - Kaboom!

"Au! Aua! Lia, hör sofort damit auf, oder ich lasse dich nie wieder hinaus!" Schuldbewusst hörte sie auf, Schnee auf mir zu verteilen und sprang nach draußen zu ihrem Bruder. Ich leckte genervt die Eisbrocken von mir runter und legte dann den Kopf auf die Pfoten. Lia und Lou waren zum zweiten mal draußen. Gestern hatten sie den Schnee noch beängstigend gefunden, doch heute sprangen sie bereits begeistert darin herum. Ich seufzte, es war der Abend des 30. Dezembers, morgen war Silvester. Und ich hatte den Jungen eine Menge zu erklären. Mein Vater hatte bereits die Raketen besorgt, ich war schon Glücksbringer einkaufen gewesen. Obwohl die gesamte Nachbarschaft sich auf einem Hügel versammelte, der relativ weit weg von unserem Haus war, um gemeinsam zu feiern, machte ich mir doch Sorgen, wie sie den ganzen Lärm verkraften würden. Jedes Jahr beschwerten sich die Förster und Jäger, dass die Raketen die Waldtiere zum Durchdrehen brachte. Mit einem kurzen Bellen rief ich sie zu mir. Die Sonne war gerade untergegangen und es wurde zu kalt für sie, um lange draußen herumzulaufen. Die Beiden kamen hereingerollt, voll mit Schnee, deshalb begann ich, sie trockenzulecken. Während ich beruhigend mit meiner Zunge über ihr Fell fuhr, begann ich zu erklären. "Wisst ihr, meine Kleinen, morgen Nacht ist eine besondere. Es existiert ein Wesen namens Mensch. Doch die Menschen sind anders als wir. Morgen feiern sie einen besonderen Tag, so wie wir zum Beispiel den Beginn des Frühlings feiern. Aber sie bringen ihre Freude mit lautem Krach zum Ausdruck. Sie malen Farben an den Himmel und schicken Feuer durch die Wolken." Die beiden rissen die Augen weit auf. "Aber ihr braucht keine Angst zu haben. Wenn ihr hier in der Höhle bleibt, wird euch nichts passieren. Leider kann ich nicht bei euch sein, aber bleibt einfach hier drin und ihr seid sicher."

Zuerst protestierten sie wie die Weltmeister, doch ich konnte sie schlussendlich doch noch beruhigen und sie sicher am nächsten Tag sicher in der Höhle lassen. Alle liefen bereits in Vorfreude auf das neue Jahr wie aufgescheuchte Hühner durch das Haus, während Nick beinahe meinen Vorrat an Energydrinks entdeckt hätte. Ich neigte dazu, immer kurz vor Mitternacht einzuschlafen, also hatte ich vorgesorgt. Ich versuchte mich den Nachmittag über zu entspannen, aber die Aufgeregtheit der anderen übertrug sich auch auf mich. Also sprang ich am Abend selbst wie ein Eichhörnchen im Nussrausch umher und nervte alle.

Als es Zeit wurde, mit all unseren Sachen zu dem Hügel zu laufen, ließ ich fast die Taschenlampe fallen, die ich mitnehmen sollte. Begeistert stapfte ich durch den Schnee und krabbelte fast den Hügel hinauf. Oben waren bereits einige unserer Nachbarn versammelt. Nachbarn bedeutete, dass sie zumindest in einem Umkreis von zwei Kilometern wohnten. Aber da der Hügel eine wunderschöne Aussicht über die Stadt bot, waren auch von weiter her Leute gekommen. Dies führte dazu, dass mir Luca zur Begrüßung einen Schneeball ins Gesicht warf und mich auslachte, während Clara mich von hinten ansprang und mich in die Knie gehen ließ. Ich hatte keinen der beiden hier erwartet und musste prompt vor Luca flüchten, der mir Fragen über das Gehege im Wald stellte. Er verfolgte mich und es resultierte darin, dass ich ihm von einem Schneehaufen aus fast anschrie, er solle mich nie wieder danach fragen. Um genau zu sein, konnte ich ihm nachher erklären, dass es illegal war und er auf keinen Fall irgendwas erwähnen sollte. Nachdem wir unsere Verfolgungsjagd beendet hatten, standen die Raketen schon in ihren Abschussrohren und mir kam es vor, als würden alle Männer damit prahlen, wie viele der Geschosse sie hatten, während die Frauen in kleinen Grüppchen beieinander standen und heimlich über die Kampfhähne lachten. Ich schaute bei einem Typen vorbei, der kleine Snacks auf einem Tisch ausgebreitet hatte und nahm mir mehrere Brote, dann stellte ich mich zu meinem Rudel und wartete auf den Countdown. Irgendjemand hatte ein Radio mitgebracht, aus dem nun die Stimme eines Kommentators rief: "Und gleich geht es los, 10, 9, 8, ..." Wir brüllten den Countdown mit und noch bevor wir null erreichten, schoss Dad die erste Rakete ab. "Glückliches neues Jahr!" schrie ich begeistert und hüpfte auf und ab. Wir stießen mit Sekt an und begannen dann, die Glücksbringer zu verteilen. Ich schenkte Clara und Luca ebenfalls zwei und umarmte die beiden. Dann starrten wir gemeinsam die unzähligen Raketen an, die beinahe den kompletten Himmel verdeckten. Besonders explosiv beeindruckend wurde es, als eine grüne und eine rote Rakete in der Luft zusammenstießen und in einen Baum krachten. Irgendwann hing so dichter Raketenrauch über dem Hügel, dass man keinen Meter weit sehen konnte. Ich hatte voll die Orientierung verloren und stolperte durch den Schnee, auf der Suche nach jemandem, den ich kannte. Der Bekannte fand wohl eher mich, denn urplötzlich kam eine Gestalt aus dem Nebel und ich krachte prompt mit Luca zusammen. Vor Schmerz zischend rieb ich mir meine Stirn und schaute zu ihm. Er rieb sich ebenfalls den Kopf, nahm aber dann meine Hand und meinte: "Wo bist du denn, alle anderen sind dort drüben!" Er zog mich zielgerichtet durch den Rauch zu meinem Rudel.

Nachdem das Bleigießen von starkem Wind, der zwar den Nebel vertrieb, aber auch die Kerzen auspustete, verhindert wurde, beschlossen wir langsam, uns auf den Weg nach Hause zu machen. Ich war mittlerweile krank vor Sorge um Lia und Lou, und als ich den Garten erreichte, rannte ich fast gegen den Zaun in meinem Eifer ins Gehege zu kommen. Vorsichtig trat ich auf die Beiden zu und schnüffelte an ihnen. Sie drückten sich zwar verschreckt an mich, doch es ging ihnen gut. Ich legte mich auf den Boden und schob sie zu mir. Müde versuchte ich einzuschlafen, doch die Kleinen waren immer noch ängstlich. Ich merkte deutlich, dass sie nicht einschlafen konnten. "Mama, erzählst du uns eine Geschichte?" Ich hatte es bereits geahnt. "Natürlich. Was wollt ihr denn hören?" "Etwas über diese Menschen, von denen du geredet hast Mama." Ich zuckte jedes mal bei dem Wort 'Mama' zusammen. Ich seufzte und beschloss, es ihnen zu beichten. Besser spät als nie! "Meine Kleinen, ich muss euch was gestehen. Es ist schwierig zu erklären, aber ich bin nicht eure wirkliche Mutter. Ich habe euch bei mir aufgenommen, als ich euch im Wald gefunden habe. Ich weiß weder wie ihr dort hingekommen sind, noch warum, doch eines weiß ich genau, ich werde mehr eure Mutter sein als alle anderen und euch immer beschützen." Beide legten den Kopf schief und ich wartete atemlos auf ihre Antwort. "Und was soll uns daran stören? Erzähl uns endlich die Geschichte!" Ich schmunzelte. Sie waren noch viel zu klein um das zu verstehen. Aber mir viel eine Last vom Herzen.

Und von der Niere.
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Wolf fact: Der Pfotenabdruck eines ausgewachsenen Wolfes ist ohne Krallen gemessen mindestens 8cm lang.

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Ja ja, Silvester :D

Allein unter Menschen!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt