55 - Nahtodeserfahrungen
Mein friedliches Dasein als vergammelte Seerose endete abrupt, als ein energisches Klopfen an der Tür dafür sorgte, dass ich vor Schreck untertauchte und Wasser - mit zwei Tonnen Seife darin - es sich in meiner Nase gemütlich machte.
Ich glaubte zu sterben und die Stimme eines Engels zu hören, doch es war nur Anna, die keifte: "Jetzt beeil dich mal, ich will vielleicht auch noch ins Badezimmer?"
Seufzend und mit brennender Nase stieg ich aus der Wanne. Erst da wurde mir bewusst, wie gefährlich so ein Bad sein konnte. Trotz der warmen Luft im ganzen Raum begann ich zu zittern und hatte eine Nahtodeserfahrung durch Erfrieren. Als ich dann auch noch fast auf dem nassen Boden ausrutschte, beschloss ich, bis zum nächsten Bad bis zum Sommer zu warten, bis es nicht mehr so schrecklich kalt war. Schlotternd wickelte ich mich in meinen flauschigen Bademantel, als wäre ich ein Hotdog im Gefrierschrank und öffnete die Tür. Ein Schwall eisiger Luft kam mir ins Gesicht und die Luftfeuchtigkeit im Bad strömte nach draußen.
Ich trippelte so schnell ich konnte in mein Zimmer, natürlich nicht ohne gefährliche Ausrutschfallen im Gang zu hinterlassen. Und ich hatte kein Schild "Vorsicht Rutschgefahr!" aufgestellt! Ich böses Ich. Was passierte eigentlich, wenn man sowas vor eine Kinderrutsche stellte?
Mit diesen Gedanken beschäftigt öffnete ich meine Zimmertür, schlüpfte hinein und drehte erst mal die Heizung voll auf. Dann zog ich mein Kuscheloutfit an. Ich liebte es einfach abgöttisch, ebenso wie meinen Pyjama. Es bestand aus einer bequemen Jogginghose, einem flauschigen Pullover der an der Kapuze Katzenohren hatte und aus puscheligen Hausschuhen. Ich bedauerte es zutiefst, dass das Outfit nur im Winter tragbar war, aber bei sommerlicher Hitze würde ich vor lauter Schweiß aussehen wie ein lebendiger Springbrunnen.
Mir war allerdings immer noch kalt, ich war müde und ich wusste nicht was ich machen sollte. Meine Haare fielen mir immer noch nass über die Schultern und ich kämmte sie schnell durch, bevor ich mich mit einem Buch direkt vor die Heizung setzte.
Ich begann, die ersten paar Seiten zu lesen, doch ich hatte die Geschichte schonmal durch und meine Gedanken schweiften ab. Ich dachte an Weihnachten. Wir feierten das Fest jedes Jahr im Kreis des Rudels, im Haus. Es war meistens ziemlich unspektakulär. Dann wanderten meine Gedanken zu dem tollen Abendessen gestern. Da kam mir eine Idee. Ich hatte vor, unser Weihnachtsfest ein wenig aufzupeppen. Begeistert schnappte ich mir einen Zeichenblock von meinem Schreibtisch und begann, darauf herumzukritzeln. Im Endeffekt waren zwar mehr durchgestrichene Wörter als Sinnvolle auf dem Papier, doch ich hatte eine feste Idee, die ich in einen Plan umsetzte. Einen Plan, wie das Weihnachtsfest dieses Jahr ablaufen sollte.
Nachdem ich meiner Mutter den Plan vorgelegt hatte, übernahm sie die Kontrolle. Ich wusste nicht, was meine Eltern in den letzten Tagen vor Weihnachten noch aus dem Plan gemacht hatten, also war es selbst für mich noch eine teilweise Überraschung.
Die Überraschung startete allerdings nicht wirklich glücklich. Mein Vater stürmte in mein Zimmer und schmiss mich in aller Hergottsfrühe aus dem Bett. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich landete schmerzhaft auf dem Boden.
"AUA! Was soll das denn?! Ich dachte als erster Punkt steht auf meiner Liste, dass wir gemeinsam das Abendessen jagen!" Mein verräterischer Vater grinste. "Das tun wir auch. Nur fahren wir dazu weiter weg." Der erste Punkt auf der Liste war tatsächlich Abendessen jagen. Die natürlichen Jagdmethoden der Wölfe bestanden darin, im Rudel zu jagen, wenn es um große Tiere ging. Mir war aufgefallen, dass wir von diesen altbewährten Methoden abgewichen waren und nur noch einzeln jagten. Also hatte ich beschlossen, dass wir mal wieder gemeinsam unser Essen besorgen sollten. Nur dass wir dazu weiter weg fahren würden, war mir neu.
Eine Stunde später stand das ganze Rudel müde und verschlafen auf dem Parkplatz vor unserem Haus. Offenbar wussten nur die Alphas von unserem Zielort und stopften alle in unsere Autos. Das mit den Autos war auch so eine Sache. Wir hatten genau vier davon. Zwei davon waren eher diese Autobusse, in die viele Personen hineinpassten. Die anderen zwei waren kleiner, falls jemand mal schnell irgendwohin musste. Die meiste Zeit über liefen wir einfach zu Pfoten. Dieses Mal wurden jedoch alle Rudelmitglieder mit den zwei Autobussen kutschiert. Mom ließ die Tür einrasten und für mich klang es, als würde eine Gefängnistür zufallen.
Wir fuhren tatsächlich für ganze drei Stunden irgendwo durch die Gegend, und keiner hatte eine Ahnung, wo es hinging, die meisten verschliefen die Fahrt sowieso.
Als wir schließlich an unserem Zielort ankamen, dachte ich als allererstes an Killer. Der Ort schien ziemlich verlassen zu sein und war perfekt, um jemanden umzubringen. Als die anderen verschlafen aus den Autos stiegen, hatten sie den gleichen verwirrten Blick drauf wie ich. Ich sah suchend umher und entdeckte schlussendlich ein zugewuchertes Schild, auf dem undeutlich der Schriftzug Nationalpark zu lesen war. Ich runzelte die Stirn. Was wollten wir mitten im Winter in einem Nationalpark? Mein Vater sprang vom Vordersitz und begann zu sprechen: "So, Überraschung! Wir befinden uns in der Nähe eines speziellen Parks. Es ist einer der wenigen, wo es noch wilde Bisonherden gibt!" Bisonherden? Was war das denn für ein seltsames Naturschutzgebiet? "Klingt vielleicht seltsam, aber unsere Caroline hier fand, wir könnten mal wieder eine der guten traditionellen Hetzjagden veranstalten. Also, auf geht's."
Zuerst waren wir alle ein wenig verunsichert, doch schlussendlich bekamen wir doch Spaß daran. Natürlich war das, was wir hier taten in hohem Grade illegal und als wir über einen Maschendrahtzaun in den Park eindrangen fühlte ich mich wie eine Kriminelle. Doch dann konnte ich es nicht mehr erwarten. Ich atmete die frische, eiskalte Luft ein und stapfte trotz tonnenweise Schnee in meinen Schuhen weiter. Als wir einen Waldrand erreichten und ich die Gerüche der unberührten Natur wahrnehmen konnte, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. Mit einem Satz lief ich auf vier Pfoten zwischen den Bäumen hindurch davon. Begeistert ließ ich meine Zunge aus dem Maul flattern und sprang übermütig durch den Schnee. Hinter mir hörte ich nun auch die anderen heulen und knurren. Wir liefen quer durch den Wald und ich war regelrecht erschrocken, als wir plötzlich eine Ebene erreichten und uns die Bisonherde praktisch ins Gesicht sprang. Viele der Tiere tummelten sich auf der freien Fläche und versuchten unter dem Schnee ein paar Gräser zu erstöbern. Begeistert Jaulend drehte ich mich im Kreis. Lasset die Jagd beginnen!
Natürlich jagten wir diesmal ganz natürlich. Wir mussten also zuerst die Herde in Bewegung versetzen, um die langsamsten und schwächsten Tiere zu erkennen. Doch die Viecher waren stur. Kaum näherten wir uns, bildeten sie einen Kreis um die jüngeren Tiere und stießen mit ihren Hörnern nach uns. So war es zu gefährlich, anzugreifen. Wir mussten eine Weile um sie herumrennen und aggressiv knurren, bis eines der Tiere die Nerven verlor und panisch davon lief. Durch eine Lücke in ihrer Verteidigung kam es zu eine Kettenreaktion und die gesamte Herde stürzte los. Das Donnern der Hufe ließ sogar den schneebedeckten Boden erzittern, als die tonnenschweren Tiere tiefe Rinnen in den Schnee zogen.
Wir folgten ihnen und schnappten immer wieder nach den Tieren, die sich ihren Weg zwischen kahlen Sträuchern hindurchsuchten. Mit der Zeit zerfaserte die Herde immer mehr und teilte sich auf. Schon kristallisierten sich potenzielle Beutetiere heraus. Doch wir hetzten noch eine halbe Stunde lang weiter, bis wir einen Bison ausgewählt hatten. Es war ein jüngerer Bulle, der eine Verletzung am Fußgelenk hatte und hinkte. Noch rannte er in einer Gruppe, doch als ich zwischen ihn und ein anderes Tier sprang und nach seiner Flanke schnappte, wechselte er augenblicklich die Richtung und rannte allein in ein kleines Waldstück, wo er uns offenbar abschütteln wollte. Die Jagd dauerte insgesamt mehrere Stunden. Obwohl der Bulle verletzt war, brauchte es die gesamten Kräfte des Rudels, um ihn zu Boden zu bringen. Mit Werwölfen behängt wie ein flauschiger Christbaum stolperte er schlussendlich und ging in die Knie, wo wir ihn augenblicklich töteten.
Ganz schön anstrengend, so eine Hetzjagd.
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Wolf fact: Das abtrennen von Beutetieren aus der Herde nennt man auch absprengen und wird von fast allen im Rudel jagenden Raubtieren verwendet. Wölfe haben diese Methode so perfektioniert, dass sie verschiedene Taktiken zum absprengen entwickelt haben.
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Ich weiß, ich bin unlogisch :D Es gibt in unserer Gegend nicht wirklich Parks mit Bisons, höchstens irgendwo im Norden, aber da Bisons gängige Beutetiere für Wölfe sind, musste ich halt sinnlos werden :D
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Allein unter Menschen!
LobisomemNormal sein ist relativ. Jedenfalls für Caroline. Während andere bei dem Gedanken, ein Werwolf zu sein, vermutlich panisch geworden wären, hatte sie samt ihren drei Geschwistern bereits seit ihrer Kindheit Zeit, sich damit abzufinden. Werwolf von Ge...