76 - Wanderung

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76 - Wanderung

Die Sonne störte meinen Schlaf. Ich knurrte missmutig, als ob sie dadurch verschwinden würde. Staubpartikel tanzten durch die Luft und mein Blick fiel auf einige Holzbänke. Sofort fiel mir wieder ein, wo ich mich befand und was passiert war.

Doch bevor ich zuließ, dass die Sorgen mich von innen zerfraßen, setzte ich mich auf und streckte mich. Ich fühlte mich, um es so auszudrücken, beschissen. Physisch wie psychisch. Ich drückte den Rücken durch und streckte die Pfoten vor meinen Kopf. Dann gähnte ich, um meinen Kiefer zu dehnen. Ein kurzes Schütteln, um meinen plattgedrückten Pelz aufzuplustern und schon fühlte ich mich wohler.
Doch fertig war ich noch nicht. Es konnte sein, dass ich mich damit nur von meinen Sorgen abgelenkte, doch ich wollte mich unbedingt putzen. Ich leckte also meine Pfote und fuhr mir damit über das Gesicht, auch wenn dies eher die Katzenart war.

Ich fuhr mit meiner Prozedur fort, bis ich auf einmal das Blut roch. Verwundert hielt ich mir die Pfote vor die Augen und entdeckte die rötliche Flüssigkeit darauf. Ich schielte nach oben, konnte aber natürlich nichts erkennen. Misstrauisch tapste ich zu dem kleinen, mittlerweile erloschenen Ofen. Er hatte eine kleine Glastür, sodass man hineinsehen konnte. Im Glas konnte ich nur vage meine Spiegelung erkennen und doch schockierte mich, was ich sah. Ich hatte beim putzen und offenbar auch gestern im Schnee die Wunde aufgerissen, die ich schon fast vergessen hatte. Der Riss, aus dem nun stetig Blut strömte, war größer, als ich erwartet hatte. In meiner Wolfsform zog er sich von meinem rechten Ohransatz aus über meine Stirn und führte sogar über das Auge, das allerdings unverletzt war. Seltsamerweise musste ich dabei an Scar aus König der Löwen denken, der hatte auch so eine Narbe. Ich runzelte die Stirn. Ich konnte mich nicht daran erinnern, auf mein Auge gefallen zu sein. Verwirrt verwandelte ich mich in meine Menschengestalt und sah erneut auf die Glasscheibe. Auf einmal hatte sich der Verlauf des Schnittes geändert. Er reichte von meinem Haaransatz über die Schläfe und spaltete schräg meine Augenbraue, was mich aussehen ließ wie ein Pirat. Stirnrunzelnd fuhr ich über die blutverschmierte Haut. Das würde mir definitiv erhalten bleiben. Doch ich sollte nich noch mehr Blut verlieren. Kurzerhand riss ich einen Fetzen des Krankenkleides, das ich anhatte, ab und drückte es gegen meine Stirn. Auch meine Füße sahen stark ramponiert aus. Sie waren über und über zerschnitten von dem harschen Schnee, durch den ich gewandert war. Es sah aus, als wäre ich in Glasscherben getreten. Ich blickte aus dem Fenster, um mich von meinen zerfetzten Zehen abzulenken. Draußen wehte immer noch ein starker Wind, doch der Sturm war zurückgegangen. Es hatte weiter geschneit letzte Nacht und meine Spuren waren verschwunden. Doch ich wusste, dass sie mich früher oder später hier finden würden. Meine Geschwister hatten eine ähnlich gute Nase wie ich und ich hatte gestern eine Spur aus Blut, Angstgeruch und Panik hinterlassen. Das einzige, was sie noch aufhielt, war der Rest des Sturms. Doch sobald der Wind abflaute, würden sie meinen Geruch ohne Umstände verfolgen können. Ich musste also so schnell wie möglich hier weg.
Nein, ich wollte nicht zu meinen Geschwistern oder zu Clara. Ich war verwirrt und sie würden meine Situation nicht verstehen. Ich hatte selbst kaum eine Ahnung. Luca kannte mein Geheimnis, was eigentlich unverzeihlich war. Ich brachte damit unsere ganze Rasse in Gefahr. Sie würden nicht nur mich in den Zoo stecken, sondern auch meine ganze Familie. Deswegen war es auch so wichtig, dass Luca kein Wort sagte. Doch um die Gefahr auszumerzen, müsste ich ihn töten. Und das würde ich niemals tun. Ich atmete tief durch. In dieser Gegend würde ich nichts tun können. Ich wollte weg von Luca, bevor er mich noch mit unzähligen Fragen durchlöcherte. Der einzige Einfall, der mir kam, war nach Hause zu gehen. Ich vermisste Lia und Lou und meine Eltern würden sicher wissen, was zu tun war. Ich traf meine Entscheidung und stieß die Tür der Hütte auf. Sogleich fiel mir Schnee entgegen, der an der Tür gelehnt hatte. Ich trat ihn beiseite, schloss die Hütte hinter mir und tappte als Wolf durch den hohen Schnee, der mir bis zur Schnauze reichte. Schnaubend kämpfte ich mich bis zu dem Gebirgspass. Ich musste da durch, bevor meine Geschwister auf der Suche nach mir hier durchkamen. Meine Füße begannen wieder wehzutun, doch ich lief noch den halben Berg nach unten, bevor ich von der Route abwich und durch ein Seitental ganz nach unten kam. Wenn ich Pech hatte, würden sie mir sofort folgen und nicht zuerst zur Hütte laufen. Ich musste mich beeilen.

Halb schlitternd und rutschend lief ich die Gebirgsstraße hinunter und es kümmerte mich nicht, dass ein Schneepflugfahrer mich im Vorbeifahren entdeckte und beinahe in den Graben steuerte. Als ich endlich am Fuß der Berge angekommen war, wusste ich natürlich absolut nicht wohin. Ich lief also als Mensch durch ein Dorf und suchte eine Karte. Ich fand sogar eine und konnte sogar einen passenden Zug erwischen. Natürlich hatte ich kein Geld dabei und auf zirka der halben Strecke wurde ich rausgeschmissen. Doch nun sollte ich wenigstens meine Verfolger los sein. Ich fuhr den Rest per Anhalter weiter. Es war zwar teilweise ungemütlich und die Leute wunderten sich, was ein Mädchen barfuß und in einem Krankenkleid am Straßenrand zu suchen hatte, doch ich gelangte bis kurz vor die Stadt, in deren Nähe wir lebten. Ich lief den Weg zum Haus als Wolf weiter und kam schließlich ziemlich erschöpft und geschwächt in unserem Garten an.

Ich stellte mich auf die Hinterbeine und quietschte mit meiner Nase über das Küchenfenster, um jemanden auf mich aufmerksam zu machen. Als mir die Tür geöffnet wurde, achtete ich nicht mal darauf, wer es genau war, sondern lief sofort zu meiner Mutter. Sie saß im Badezimmer am Boden und sortierte gewaschene Socken in verschiedene Kübel. Bei uns war das keine so leichte Sache. Unsere Familie war riesig und niemand wusste, welche Socken wem gehörten.

"Caroline? Was zum Teufel machst du denn hier? Ist der Ausflug abgesagt worden?", fragte sie verwundert. Man könne erwarten, jemand hätte sie angerufen, nachdem ihre Tochter im Schneesturm verschwunden war, aber anscheinend hatten sie immer noch keine Verbindung oder hatten es einfach vergessen.

Ich fackelte nicht lange und platzte mit der Wahrheit heraus: "Mom, ich habe Luca gezeigt, dass ich ein Werwolf bin! Ich weiß nicht was ich tun soll!", meinte ich leicht weinerlich.

Das Gesicht meiner Mutter verlor seine Farbe.

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Befolgt meinen Rat und springt niemals in knietiefen Schnee, bevor ihr euch sicher seid, dass es Pulverschnee ist. Aufgeschnittene Schienbeine von gefrorenem Schnee zu kriegen ist nicht so toll xD

Allein unter Menschen!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt