74 - Schneesturm

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74 - Schneesturm

Warum war er hier? Was wollte er?

Diese Fragen wurden beantwortet, als Luca leise murmelte: "Ich wollte dich besuchen, dir Beistand leisten. Aber ich durfte noch nicht zu dir, weil du geschlafen hast." Er lief beinahe rot an. Ich musste mir ein gequiektes: "Awww!"stärkst verkneifen.

"Ist schon in Ordnung. Ich freue mich über Gesellschaft. Da, nimm dir den Stuhl." Ich deutete mit zitternder Hand auf das Möbelstück. Luca bemerkte meine Hand, schnappte sich den Stuhl, war innerhalb von Millisekunden bei mir und griff sich meine Hand. "Alles in Ordnung? Du zitterst ja! Ist dir kalt? Zu warm? Tut dir was weh?" Schon wieder dieses Verlangen zu Quieken. "Halt halt halt, mir geht es gut. Ich bin nur noch nicht wieder ganz bei Kräften. Was hab ich denn verpasst, während ich wie ein Stein geschlafen habe?"

Luca ließ meine Hand nicht los, setzte sich mit seinem Stuhl neben mich und begann zu erzählen. Offenbar hatte der Schneesturm für einige Verwirrung gesorgt, denn Frau Hueber war draußen verloren gegangen und hatte sich im Schnee verirrt. Ein weiterer Lehrer war sie suchen gegangen und hatte sie inmitten von Schneebergen entdeckt, war dabei aber fast selber stecken geblieben. Offenbar saßen sie nun beide in Decken gewickelt unten in der Stube und wärmten sich auf. Es tat gut, sich mit Jemandem zu unterhalten. Luca half mir sogar, mein Wasser zu trinken. Er hielt die ganze Zeit meine Hand, was mir noch mehr gefiel. Ich musste durch seine Erzählungen ständig lachen und ich fragte mich, ob ich jemals bei einer Unterhaltung zwischen uns nicht gelacht hatte.

Doch plötzlich schlug die Stimmung um.

"Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.", meinte er plötzlich, während er auf die Bettdecke starrte.
Ich runzelte die Stirn. "Natürlich, wieso?"
"Ich spüre, dass dich etwas bedrückt. Dass du etwas verbirgst. Du bist nicht normal, Caroline."

Was zur Hölle? Was wollte der denn jetzt?

"Wie meinst du das?", fragte ich zögerlich.

"Ich bemerke immer mehr Sachen, die nicht stimmen. Ungereimtheiten. Wenn ich mal aufzählen darf. Als erstes die Narbe auf deiner Hüfte. Du hast mir erzählt, dass es ein Autounfall war. Aber als ich nachgeforscht habe, war nirgendwo, in keiner Zeitung, ein Autounfall mit Personenschaden an diesem Datum angegeben."

Ich zuckte zusammen. Spionierte er mir etwa hinterher? Nicht gut, gar nicht gut.

"Weiters, du tauchst jeden Morgen einfach so vor der Schule auf, ohne mit dem Bus zu fahren, wie deine Geschwister. Du stehst bei der Pyjamaparty einfach auf und verschwindest spurlos, genauso wie beim Campingausflug, wo du am Morgen blutverschmiert wieder auftauchst. Du scheinst eine eigenartige Verbindung zur Natur zu haben. Du fehlst einmal pro Monat beinahe grundlos. Ich werde verletzt und prompt von einem Wolf zu eurem Haus geführt. Ich lerne eine Wölfin kennen, die genau gar keine Angst vor mir zu haben scheint. Ihr nehmt Wölfe bei euch auf, als wäre es das normalste der Welt. Bei dir im Zimmer hängt ein Hirschkopf und du kannst Kaninchen häuten. Du kannst dich im Wald orientieren wie sonst was und gleichzeitig laufen wie eine Irre. Du isst ständig nur Wurstsemmeln und Salamibrote. Wenn man dich hinter dem Ohr krault, wirst du brav wie ein Welpe. Und wenn ich dir in die Augen sehe, bemerke ich manchmal diese Kraft, die darin liegt. Als würde mich ein uraltes Wesen ansehen. Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich will nur dieses Rätsel auflösen. Es beschäftigt mich schon lange, denn es geht dir nicht gut damit. Du kannst mir alles erzählen. Es wird dir danach besser gehen, glaube mir."

Mir war heiß und kalt gleichzeitig. Wie hatte er so viel herausfinden können? Ich hatte mich zu sehr auf den Zufall verlassen. Wenn man alle Hinweise zusammentrug, würde man darauf kommen. So weit hatte ich nie gedacht. Ich hatte die Klugheit der Menschen unterschätzt.

"Ich würde es dir ja gerne verraten, Luca. Aber ich kann nicht.", meinte ich zitternd und schlang meine Arme um meine Schultern.

"Wieso nicht?"

"Darum nicht!", fuhr ich ihn wütend an.
Es ging einfach nicht. Luca würde sich wie alle anderen vor mir ekeln. Er würde mich in einen Zoo stecken und mich seltsamen Wissenschaftlern überlassen. Und das Schlimmste: er würde Angst vor mir haben und mich verlassen. Und ich wollte ihn nicht verlieren. Ich war ein Monster. Ich würde ihn an Vollmond ohne zu zögern töten! Was wenn ich die Beherrschung verlor und ihn anfiel? Nein, es ging einfach nicht.

"Vertraust du mir nicht?", fragte Luca leise.

"Doch, natürlich. Aber..." Ich suchte verzweifelt nach einer erklärenden Antwort.

"Was aber? Wer hat es dir verboten? Warum gehorchst du ihnen? Die Caroline, die ich kenne, würde sich niemals unterdrücken lassen!"

"Herrgott nochmal, Luca!" Ich wollte es ihm erklären, doch die Worte bildeten mir einen Kloß im Hals.

"Ich habe Angst, versteh es doch!", platzte es mir schließlich heraus.
Sofort hielt ich mir den Mund zu. Tränen bildeten sich in meinen Augen. Seine Gesellschaft, die ich vorher noch so genossen hatte, war mir jetzt zuwider. Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt. Und das war immer noch die oberste Regel: Schneide niemals einem ängstlichen Wolf den Fluchtweg ab.

Luca nutzte die Situation, dass ich praktisch ans Bett gefesselt war, komplett aus, auch wenn es vielleicht nicht Absicht war. Und dieses Gefühl der Unfähigkeit, der Unfähigkeit davonzulaufen, machte mich fertig.

Der Fluchtinstinkt war einfach zu stark.

Mit einem Wimmern schlug ich die Decke zurück und erhob mich, obwohl mein Körper mit aller Kraft protestierte und mich mit Schwindel strafte. Noch bevor Luca reagieren konnte, war ich bei der Tür, auch wenn mich meine Beine kaum trugen. Meine nackten Füße trugen mich schnell über den Gang, nachdem ich Luca die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte, um mir mehr Zeit zu verschaffen. Mein Kopf hämmerte und mein Blickfeld verschwamm. Zu gerne hätte ich mich einfach auf dem Boden niedergelassen und wäre eingeschlafen, doch ich konnte Luca hinter mir hören. Meine Fluchtinstinkte nahmen die Überhand, ich wollte einfach nur weg von ihm. Plötzlich erreichte ich das Ende des Ganges, den ich blindlings entlanggerannt war. Sofort fühlte ich mich eingeengt und riss die einzige vorhandene Tür auf. Prompt stand ich im Schneesturm. Ich witterte frische Luft und ohne zu zögern stolperte ich in die eisige Kälte hinaus. Sofort fühlte ich mich wohler. Der eiskalte Wind kühlte meinen erhitzten Kopf und fror meine Tränen ein, die er dann wie einen seltsamen Schmuck an meine Wimpern klebte. Obwohl sich meine Füße im Schnee anfühlten, als würden sie in Säure getaucht werden, lief ich weiter. Ich trug nur ein leichtes Nachthemd, das vom Wind um meinen Körper gewickelt wurde. Ich schlang meine Arme um meinen Oberkörper und stapfte mit tauben Zehen weiter. Ich hatte keine Ahnung wo Luca war, im Sturm sah man kaum zwei Meter weit. Ich taumelte weiter. Mir wurde schwindelig und das lose Ende meines Verbandes, das vom Wind umhergetragen wurde, wirbelte lästig vor meinen Augen herum. Mit einem kurzen, erbosten Handgriff riss ich den kompletten Stoff von meinem Kopf und sank im selben Moment auf die Knie, da meine Füße mich nicht mehr trugen und der Schwindel stärker wurde. Mein Atem kondensierte und wurde sofort davongetragen. Ich blickte auf.

Und entdeckte die Silhouette eines Menschen, der zielstrebig auf mich zustapfte.

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Fun fact: die Abkürzung des Titels der Story ist AuM. Hätte ich die Hauptperson Bertha genannt, wäre es Bertha allein unter Menschen. Also BAUM. :D.

Allein unter Menschen!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt