77 - Kerker

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77 - Kerker

"Was? Aber.. WAS?!", stammelte ich entsetzt. Warum verstanden sie mich nicht?!

"Keine Widerrede. Du bleibst in deinem Zimmer, bis wir das geregelt haben."

"Werdet ihr ihn etwa umbringen?!", kreischte ich panisch.

"Nein. Aber wir werden umziehen müssen. Der Junge darf keine Gefahr für uns sein. Und du bleibst bis zum Umzug hier in deinem Zimmer. Kein Kontakt mit der Außenwelt und schon garnicht mit Luca. Du hast uns alle verraten, ich bin extrem enttäuscht von dir.", murmelte meine Mutter. Ihre Augen, die mich durch den Türspalt beobachteten, machten mir Angst. Sie wirkten so kalt, so vorwurfsvoll, so leblos.

Meine Mutter knallte die Tür zu und ich hörte den Schlüssel knacken. Sie hatten sogar ein spezielles Schloss am Fenster angebracht, sodass ich es nur noch kippen konnte.

Ich ließ mich verzweifelt an der Innenseite der Tür hinunterrutschen und legte den Kopf auf die Knie. Wie hatte ich nur so blöd sein können. Für mich war es ein Fehler gewesen, für mein Rudel war es ein Sakrileg. Ich fühlte mich bereits wie eine Ausgestoßene. Wieso taten sie das? Ich hatte mich in die Enge gedrängt gefühlt und ich sehnte mich endlich nach jemandem, mit dem ich frei sprechen konnte, ohne dass derjenige ein Werwolf war. Doch nun war ich geächtet. Ich merkte es bereits. Ich war seit einer halben Stunde hier drin und von draußen kam kein Ton. Normalerweise würden alle an der Türe kleben und mich auslachen, da ich wieder etwas angestellt hatte. Doch hinter dem kühlen Holz drang kein Ton hervor.

Ich hatte kein Handy, keinen Laptop, überhaupt garnichts, mit dem ich Kontakt zur Außenwelt aufnehmen konnte. Und das schlimmste war, ich durfte nichtmal Lia und Lou sehen. Das einzige, was ich konnte, war aus dem Fenster zu starren.

Und das tat ich auch. Stunde um Stunde. Tage um Tage. Ich zählte sie mit. Am fünften Tag wurde mir klar, wie armselig ich war. Ich wohnte im selben Haus wie das Rudel, doch ich gehörte nicht mehr dazu. Wenn ich mal rausdurfte, hauptsächlich um auf die Toilette zu gehen, wurde ich eskortiert. Egal wer es war, der Blick, der mir zugeworfen wurde, war hasserfüllt und vorwurfsvoll. Es tat weh. Mir wurde meine Familie entrissen. Meine Lebensgrundlage. Sogar mein Zufluchtsort, mein Zimmer, wirkte wie eine Zelle. Die Landschaft draußen vor meinem Fenster wirkte viel einladender. Ich wollte hinaus. In die Wälder. Ich beobachtete sie, sobald ich aufgewacht war. Stunde um Stunde kauerte ich auf der Bank vor meinem Fenster und starrte hinaus. Ich verfolgte den Lauf der Sonne, der Schatten, der Tiere. Sobald das Licht der untergehenden Sonne mein Zimmer in goldenes Licht tauchte, stand ich, begleitet von Schmerz, auf und streckte mich. Meine Gliedmaßen waren eingeschlafen, meine Gelenke steif. Niemand hatte sich den Tag über gemeldet, bis auf jemanden, der mir schnell ein Tablett mit zwei Laib Brot und einer Literflasche Wasser ins Zimmer geschoben hatte. Die Ignoranz meines Rudels fraß sich in meine Psyche. Sie hatten einen geliebten Menschen nach Jahren der Zusammengehörigkeit einfach vergessen. Ich fühlte mich, als würde ich nicht mehr existieren. Nach fast zwei Wochen des Eingesperrt-seins, sah ich sie alle nur noch als Fremde an. Nein, sie waren nicht mehr meine Familie. Ich wusste nicht, wie lange es noch bis zum Umzug dauerte, doch ich wollte auf keinen Fall mit. Der Wunsch, einfach in die Wälder zu laufen, war immer stärker geworden. Endlich weg von diesem Kerker.

Am Tag vor dem Umzug wurde dieser Wunsch übermächtig. Im Stockwerk unter mir war das Schlafzimmerfenster offen, ich konnte meine Eltern ... nein, die zwei Alphas diskutieren hören.

"Gibt es nicht eine Möglichkeit, sie mitzunehmen?"
"Nein. Ich habe sie ja auch schon ins Herz geschlossen. Aber wir können nicht mit zwei Wölfen umziehen, für deren Haltung wir eigentlich eine Lizenz brauchen."
"Aber wir können sie nicht einfach im Wald aussetzen. Sie sind noch nicht so weit." meinte Dad.
"Es wird uns wohl nichts weiter übrigbleiben, als sie in den Zoo zu bringen." Ich erstarrte.

Sprachen die da über Lia und Lou?! In den Zoo?! Meine Kinder? Einfach zurücklassen? Jetzt war es klar. Entweder ihr Herz war eingefroren, oder ich halluzinierte. Und ich musste sofort hier raus.

Kurz bevor ich die Tür attackieren konnte, besann ich mich. Rohe Gewalt würde nichts bringen. Ich würde hier weggehen. Mit Lia und Lou. Aber nicht jetzt. Erst in der Nacht. Tief durchatmend ließ ich mich in meiner üblichen Position auf der Fensterbank nieder.
Obwohl die Sonne nach mehreren Stunden unterging und ich normalerweise jetzt schlafen gegangen wäre, blieb ich sitzen. Die Sonne verschwand und langsam tauchten die ersten Sterne auf. Ich zählte sie, bis sie zu viele wurden. Ich riss meinen Blick vom funkelnden Firmanent los und wandte ihn in mein dunkles Zimmer. Dann schwang ich meine tauben Beine auf den Boden, stand wackelig auf und schluckte. Zittrig nahm ich einen Stift vom Schreibtisch und setzte ihn auf einem Papier an.

Ich schrieb:
An das Rudel,
ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Einen sehr schweren sogar. Aber ich bin der Meinung, dass Luca vertrauenswürdig ist. Ich habe überreagiert und hatte Angst vor mir selber. Ich hätte eure Zuneigung und Hilfe gut gebrauchen können, doch stattdessen habt ihr mich verstoßen und wie eine Mörderin behandelt. Diese Ignoranz hat mich zutiefst verletzt. Ich weiß nichtmal, ob ihr den Brief überhaupt lesen werdet, doch ich hoffe es, damit ihr versteht, dass ihr mich innerlich zerbrochen habt. Wölfe sind Rudeltiere. Sie werden krank, wenn sie allein sind. Was dachtet ihr, was es für einen Effekt auf mich haben würde? Ich bin weggegangen, weil ich es hier nicht aushalte und die Kleinen den Zoo bestimmt nicht mögen. Und solltet ihr mich jemals irgendwo finden, was sehr unwahrscheinlich ist, werde ich euch nicht hinterherkriechen wie ein Hund. Für mich seid ihr gestorben, genauso wie ich für euch. Auf Nimmerwiedersehen, ich werde euch nicht vermissen.
Caroline.

Meine Hand zitterte immernoch, doch ich war nicht traurig, alles zu verlassen, was mir einst wichtig war. Ich wollte frei sein, weit weg von diesem Ort, der von nun an immer mit schlechten Erinnerungen verknüpft sein würde. Kurzerhand ging ich zum Türschloss hinüber und begann, mit einem gebogenen Kleiderbügel darin herumzustochern.

Ich würde gehen. Und niemand würde mich aufhalten können.

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Na, überrascht? ;) Hab ich euch erschreckt? ^^

Allein unter Menschen!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt