49 - Das Mädchen aus dem Traum (2)

5 1 0
                                    

Zur Mittagszeit, nach einem Bad in kaltem Meerwasser in ihrem Zuber, suchte sie den ersten Maat Bruun Kelmer auf und drückte ihm ein winziges, versiegeltes Stückchen Pergamentrolle in die Hand. Kelmer höchstpersönlich kümmerte sich um den Taubenschlag der ‚Blaue Palu'. Die Vögel gurrten und flatterten, wild mit den Flügeln schlagend, umher, als der Mann mit seinen riesigen, groben Händen in ihren Käfig griff und dennoch sanft und behutsam eine von ihnen hervorholte.

„Informiert mich, sobald eine Antwort eintrifft. Nicht Merett Moos, nicht Kal Zigel, informiert mich", hatte sie ihn angewiesen und ein ausdrucksloses, aber eindeutig zustimmendes, Nicken geerntet. Anschließend fing sich Lena auf Deck einige Sonnenstrahlen ein und aß währenddessen von den mezertinischen Kirschen, um endlich wieder ein wenig Farbe zu bekommen.

Den Großteil ihrer Reise von Venhaven nach Mezerte hatte sie, über den Karten und Plänen brütend, in ihrer Kabine verbracht, sich den Kopf über jene wegweisende Schlacht zerbrochen und dann war es doch ganz anders gekommen. Fisi war derjenige, der alle Antworten kannte. Auf ihren obersten Berater konnte sie sich vollends verlassen. Warum sollte sie sich da also nicht auch einmal etwas Schönes gönnen? Etwas unbeschwerte Zeit genießen? Zumindest so unbeschwert, wie sie in Kriegszeiten eben sein konnte.

Der Tai indes würde ihr keine Gesellschaft dabei leisten können. Dieser hatte ausrichten lassen, dass er ein wenig zu viel von dem frischen Obst gegessen hatte und somit unpässlich war. So unterhielt sich Lena also mit Kal Zigel und Merett Moos, lauschte dem sanften Rauschen des Meeres, dem Treiben an Deck und den Liedern der Möwen. Sie erlaubte sich den Spaß, Janos Muth beim Füttern jener weißgefiederten Sänger, zu helfen. Kreischend und zeternd balgten diese sich um die Zwiebackkrumen und zauberten Lena ein unbewusstes Lächeln auf die Lippen.

Gerne wäre sie in ihrem Eifer auch bis hoch hinauf in das Krähennest geklettert, um die Welt einmal von dort oben sehen zu können, doch hatte sie dann doch zu viel Angst vor der beeindruckenden Höhe. Stattdessen ließ sie ihren Blick über die Reling schweifen, beobachtete die Schiffe ihrer riesigen Flotte in nah und fern. Da der Wind ihnen wohlgesonnen war, brausten sie regelrecht über das Wasser hinweg. In diesem Tempo würden sie wohl in weniger als fünf Tagen die weiße Stadt erreichen. Wäre sie im Glauben an den einen Gott erzogen, so hätte wohl die Versuchung bestanden, ihm dies als eine Art Geschenk oder Wohlwollen anzurechnen. So war es lediglich eine glückliche Fügung.

Keine Fügung war die kleine Schriftrolle, die Bruun Kelmer ihr am späten Nachmittag überreichte.

Ein kleiner Fetzen Papier, der ihr Herz höher schlagen ließ. Zunächst traute sie sich nicht, das blaue Siegelwachs zu brechen. Sie legte die Nachricht zu ihren Karten auf den großen Schreibtisch und starrte sie an, lief auf und ab, bis man die ersten Fackeln an Deck entzündete, um der Dunkelheit an Bord zu trotzen. Der Drang in ihr, das Geschriebene zu lesen, obsiegte schließlich über die Furcht, der Inhalt könne eine Enttäuschung enthalten. Mit zittrigen Fingern löste sie das brüchige Wachs und entrollte das Papier im fahlen Licht ihrer kleinen Nachtlaterne.

„Meine Regentin, es ehrt mich in höchstem Maße und löst hochtrabende Freude in mir aus, dass ihr mein Angebot vor Mezerte nicht vergessen habt. Selbstredend und mit dem größten Vergnügen, werde ich Euch durch Surme führen, sobald die Westländischen die Stadt für Euch erobert haben. Ich gedenke meiner Regentin den weißen Garten zum Geschenk zu machen. Das einzige Bauwerk dieses Kontinents, welches Eurer Schönheit, Liebreiz und Eleganz auch nur annähernd würdig sein dürfte.

Euer treu ergebener Diener Palu Menk."

Sie musste sich setzen. Sollte sie nun lachen oder weinen, während ihr Herz in ihrer Brust hüpfte und Wellen der Freude durch ihren ganzen Körper sendete? Sie las das Geschriebene noch einmal und dann noch einmal. Wieder und wieder und wieder. Sie wollte ihn. Wollte Palu Menk mit Haut und Haaren. Hier und jetzt, in ihrem Bett, an ihrer Seite. Nein, sie wollte ihn in sich haben, ihn spüren, ihn riechen, ihn schmecken, das Tier in seinen Augen sehen. Wäre der eine Gott ihr Gott, hätte sie ihn für diese unmögliche Grausamkeit angeklagt. So blieb ihr nichts weiter, als sich selbst. Wie schon so oft, in jüngster Vergangenheit. Surme würde alles verändern.

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt