10 - Die Augen des Blinden (2)

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Es war ein schmuckloser Sarg, in welchen man den Regenten gebettet hatte. Er bestand aus einfachem, schlichtem Holz und kam ohne jegliche Zierde aus. Keine Schnitzereien, keine Bemalung, nichts. Einem Regenten unwürdig, in solch einer Kiste bestattet zu werden.

Immerhin sollte Palu Venua der Zweite, wie sein alter Herr, seine letzte Ruhestätte unter dem großen Baum beziehen, wo auch seine Mutter und seine Ehefrau im Tode begraben lagen. Seine Seele hingegen saß womöglich gerade zu Gericht vor dem einen Gott, der darüber entscheiden würde, ob er in die Glückseligkeit eintauchen oder in die Verdammnis geschickt werden würde. Für Di gab es keine Zweifel, dass den Mitgliedern der Familie Venua allesamt nach dem Tode Zutritt in das ewige Glück gewährt werden würde. Wer wenn nicht sie? Dasselbe hoffte er natürlich auch für seinen Vater, der zu Lebzeiten der gutherzigste und liebevollste Mensch gewesen war, den er kannte. Von niederer Geburt zwar, aber betonten doch alle, dass es dem einen Gott gleich wäre, wer oder was man im Leben einst gewesen sei. Es zählten nur die Taten eines jeden Menschen. Sein Vater hatte niemals jemanden getötet und vielen Anderen Anlass zur Freude gegeben. Sei es den Buraniern, die ihn den ‚Kal-Händler' nannten und die sich, mit Freuden, über seine Rüben, Karotten und anderen Mitbringsel hergemacht hatten. Oder aber die Menschen Klupingens und Umgebung, die die exotischen Früchte liebten, die er dafür im Tausch erhielt. Manche verkaufte Kal Brahmen sogar an Händler, die wiederum weiter in die Hauptstadt zogen. Mit großer Sicherheit waren unter den Mitläufern der Prozession auch welche, die bereits Früchte gegessen hatten, die sein Vater aus der ‚Zweitwelt', wie sie sie grundsätzlich nannten, mitgebracht hatte.

Etwas, das Di nie so recht verstehen konnte. Auf der einen Seite hassten die Menschen die ‚Barbaren der Zweitwelt', auf der anderen Seite zahlten sie horrende Preise für deren Waren.

Der hölzerne Sarg, der von sechs kräftigen Männern, drei auf jeder Seite, getragen wurde, kam nun unweit des Baumes endlich zum Stehen und mit ihm die nachfolgenden Menschenmassen.

Um sich herum hörte er erschöpftes Geschnaufe und Gekeuche, gerade aus der, größtenteils betagten, Beraterschaft der Regentin. Insbesondere der alte Bohns war sichtlich außer Atem, nutzte seine beiden Augen, Paky und Di, als Stützen.

Lena Venua berührte den dicken, knorrigen Stamm der Eiche, dessen unterer Teil samt Wurzelwerk von einer dicken Moosschicht bedeckt war. Sie hielt kurz inne, so als wollte sie in den Baum hineinhorchen, auf eine Antwort von ihm warten.

Ein kurzer Augenblick, den Di nutzte, um einen Blick hinter sich zu werfen.

In einem Halbkreis hatten sich die Soldaten der Stadtwache um sie herum aufgebaut und hielten so die nachfolgende Menschenschar auf Abstand, die der Beisetzung somit nur aus einer gewissen Distanz beiwohnen durften.

Man konnte schlecht sagen, wie viele gekommen waren, doch mussten es Tausende sein. Ein wahrer Fluss an Menschen, der sich in beachtlicher Länge den Händlerweg entlangschlängelte. Vereinzelt schritten noch immer Männer, Frauen und Kinder aus den mittlerweile weit entfernten, Toren der Stadt und mischten sich unter die Schaulustigen.

Die Geräusche, welche die Träger verursachten, als diese endlich den Sarg abstellten, ließen Dis Blick wieder nach vorne wandern.

Zu Füßen des mächtigen Stammes hatte man zuvor bereits ein großes Loch ausgehoben. Zweifelsohne die letzte Ruhestätte des Regenten. Seine Tochter kniete sich ein letztes Mal neben die Kiste, ihr Haupt gesenkt.

Auch jetzt zeigte Lena Venua keine Tränen. Was auch immer sie gerade denken mochte, sie konnte diese in aller Stille tun.

Noch wenige Augenblicke zuvor, beherrschte angeregtes, gedämpftes Murmeln und das Stampfen unzähliger Füße die Luft, doch nun konnte man nun nur noch das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen und das leichte Pfeifen des Windes in den Ohren wahrnehmen.

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