49 - Das Mädchen aus dem Traum (3)

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Der Horizont begann bereits purpurn und violett zu glühen, ein leuchtender Schnitt in der Nachtkuppel, die sich über ihre Welt aus Wasser gestülpt hatte. Reihenweise schwarze Segel tauchten wie unheimliche Gespenster aus dem feurigen Schweif in der Dunkelheit auf. Sie konnte nicht erkennen, wie viele es waren, doch Bruun Kelmer schätzte ihre Zahl umgehend auf fünfzig bis sechzig. Signalhörner erschallten von den Decks der venuarischen Flotte. Wölfe, die den, hinter Wolken verborgenen, Mond anheulten.

„Holt die Segel ein, wir lassen uns fallen", rief Lena. Kelmer wiederholte ihren Befehl lautstark. Männer setzten sich in Bewegung.

„Was für eine Flotte ist das? Niemand hat unser Kommen erwartet", hatte Kal Zigel noch auf den Lippen, ehe ein ohrenbetäubender Lärm sie alle vor Schreck zusammenzucken ließ.

Ihre Bestien brüllten, doch dieses Mal war etwas anders. Dieses Mal klang es falsch. Als sie backbords einen Blick über die Reling warf, spürte Lena schließlich einen Stich in ihrem Herzen.

Überall leuchteten Flammen in der Ferne auf und verwandelten das ansonsten dunkle Meer, mit der venuarischen Flotte darauf, in einen leuchtend-roten Flickenteppich. Ein rotes Gewitter unterhalb des stummen, grau-schwarzen Himmels. Eiserne Vögel wirbelten mit Feuerschweif durch die Lüfte und stürzten sich wie hungrige Raubtiere auf ihre schwimmende Beute – ihre Schiffe. Bumm! Die rinkische ‚Rute und Netz' kippte getroffen zur Seite und neigte dabei ihre beiden Maste gefährlich Richtung Wasser. Krach! Sofort wanderte der Blick der Regentin weiter gen Süden zu einer ihrer Dromonen, die stark erschüttert, wie betrunken, hin und her schwankte. Aus glühenden Öffnungen in deren Rumpf strömte Rauch gen Himmel. Feuer in dem riesigen Bauch ihrer schwimmenden Korn- und Waffenkammer. Hochklipps ‚Meerjungfrauenlied' dahinter verlor einen ihrer drei Maste, als dieser von einem Eisenvogel, wie ein Grashalm auf einer Wiese, ausgerissen und scheinbar mit dem Wind davongetragen wurde. Die ‚Lächler' kam vom Kurs ab und krachte in die benachbarte ‚Königin der Meere'. Die ‚Singende Nachtigall', ein kokensisches Langschiff, elegant und schlank, brach in zwei Teile auseinander, als etwas Feuriges sie durchschnitt wie ein Messer einen Honigkuchen. Ihre Segel gingen in Flammen auf und loderten für einen kurzen Moment, ehe das Meerwasser das Feuer gierig verschlang. Dies waren jedoch nur die Schiffe in ihrer Nähe, diejenigen, die Lena zweifelsfrei benennen konnte. Ein weitreichendes Schlachtfeld hatte sich, wie ein plötzlicher Sturm, um sie herum ausgebreitet. Es bestand aus Wasser, gesplittertem Holz und Segeltuch, Feuer und Rauch und angsterfüllten Schreien. Schreie, wie sie sie vor Mezerte bereits einmal gehört hatte. Wie ein ungeheures Insekt gruben diese sich in Lenas Kopf. Während sie ihren Blick in die Ferne schweifen ließ, verkam das Geschrei jedoch zu einem dumpfen Surren in ihren Ohren. Steuerbords bot sich ihr das gleiche Bild. Schiffe verwandelten sich in Kleinholz, Flammen verzehrten die Segel, Männer sprangen angsterfüllt in das schwarze Wasser. Von der Bahre des Todes direkt in das nächste Verderben.

Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Nur die Westländischen, erkannte sie jetzt. Die westländischen Schiffe waren es, die in Stücke gerissen wurden, kippten und sanken. Ihre Bestien spuckten Feuer, doch dieses Feuer galt ihren Brüdern und Schwestern.

„Nein", dachte sie wider besseres Wissen, „ein Traum, das ist nur ein Traum."

Merett Moos riss sie von den Knien hoch. Lena hatte gar nicht bemerkt, wie sie, an die Brüstung geklammert, in sich zusammengesunken war. Sie spürte nicht einmal mehr Moos' Hand an ihrem Arm. „Das Beiboot", schrie der Offizier und zog seine Regentin taumelnd hinter sich her, während um sie herum Chaos herrschte. War dies wirklich nötig? Sie lehnte diesen Gedanken so sehr ab, dass er ihr im ersten Moment regelrecht unwirklich vorkam. Das kleine Boot führten sie für den Zweck mit sich, um sie, die Regentin, in Momenten wie diesem, in Sicherheit bringen zu können. Wer sollte sie begleiten? Wohin sollten sie rudern? Nirgendwo um ihr Schiff war auch nur ein Flecken Wasser, der ihnen Schutz bieten konnte.

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt