16 - Maus aus den Gassen (2)

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„Du siehst ganz schön hungrig aus. Willst du auch etwas essen?", fragte ihn der Junge, den alle Maus nannten, während er gekonnt, in einem Rutsch, seine erste Kartoffel pellte. Di schüttelte den Kopf. Er war nicht hungrig, auch wenn er zuletzt etwas zu sich genommen hatte, bevor er mit Bohns der Ratssitzung der Regentin beigewohnt hatte.

„Wo kriegst du dein Essen her?", hakte Maus nach und warf seine Kartoffel in den Bottich. Di war weitaus weniger geschickt im Schälen als sein Partner, doch keineswegs unbeholfen. Er benötigte eben nur etwas länger.

„Was meinst du damit?", stellte er die Gegenfrage und schob gleich noch nach, „Ich kaufe die Zutaten für meine Mahlzeiten natürlich auf dem Markt."

Maus lachte gut hörbar auf und musste aufpassen, dass er sich nicht an dem Stück Mohrrübe verschluckte, welches er sich kurz zuvor noch in den Mund geschoben hatte.

„Kaufen, ja", lachte er weiter, „und wem klaust du das Geld dazu?"

Erst jetzt realisierte Di, weshalb man ihm derart wunderliche Fragen stellte. Maus musste ihn wohl für einen Streuner oder Bettler halten. Dem widersprach er sofort vehement, erklärte, dass er Arbeit habe und bei einem Verwandten wohne. Dass es sich bei dem vermeintlichen Verwandten um Gunnet Bohns handelte und er auch für ebendiesen arbeitete, verschwieg er seinem Gesprächspartner aber.

Dieser war sichtlich beeindruckt: „Hätte ich nicht von dir gedacht, Di. Wirklich nicht. Aber ich arbeite auch, musst du wissen. Ja, ständig mache ich irgendwas anderes, um mir ein paar Münzen dazu zu verdienen. Seit die Stadtwache derart verstärkt wurde, wird es immer schwieriger den reichen Schnöseln die Taschen zu erleichtern."

„Du bestiehlst andere Leute?"

Di wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Es war falsch zu stehlen. Der eine Gott verurteilte solcherlei Verbrechen aufs Schärfste. Andererseits schwang auch ein wenig Bewunderung in seinen Gedanken mit. Es gehörte schon Mut dazu, jemanden zu bestehlen. Dass ausgerechnet ein so junger Bursche wie Maus, der zudem kleiner und womöglich sogar jünger als er, dazu fähig war, fand er auf eine seltsame Art und Weise beeindruckend.

Der Junge schien sich nicht einmal groß daran zu stören, dass er den einen Gott verärgerte, denn seine Antwort lautete, dass er lediglich dafür sorge, dass sein Hunger gestillt wird. Die Gutbetuchten mit ihren dicken Leibern, die sich nur des Genusses wegen mit Essen vollstopften, seien in seinen Augen die wahren Verbrecher.

Es war einleuchtend, was er sagte. Di kam sich plötzlich sogar etwas dumm vor. Wie konnte Maus, ein Junge von der Straße, nur solch gescheite Worte von sich geben?

Maus erzählte Di seine ganze Geschichte. Er stammte aus Sommerlaub, einem kleinen Dorf nordwestlich von Venuris, welches direkt am Moteem läge. Seine Mutter starb, als er etwa fünf oder sechs Jahre alt war und da er keine sonstigen Verwandten hatte, nahm ihn ein Mann namens Ludi bei sich auf, der zufällig gerade in der kleinen Dorfschenke übernachtete.

„Ich habe damals schon nicht verstanden, weshalb der eine Gott mir zuerst Leid zufügen, also meine Mutter zu sich holen musste, nur um mir anschließend diesen Mann zu schicken. Das Beste, was mir passieren konnte", bemerkte er mit nachdenklichem Blick, während er erneut in Windeseile eine weitere Kartoffel von ihrer Schale befreit und in den Bottich befördert hatte.

Mittlerweile war der große Haufen schon auf Höhe von Dis Stirn zusammengeschrumpft.

Sein Ziehvater Ludi zog zu jener Zeit mit seiner Bastardtochter Linka durch die Dörfer und Städte Venuas, wo sie gemeinsam für die Menschen musizierten. Er schlug eine große Trommel, die er, ob ihrer Größe, nur auf seinem Rücken transportieren konnte, während seine Tochter eine hölzerne Flöte blies. So boten sie ihre Lieder vor zahlreichen, begeisterten Zuschauern dar. Von alter Folklore, wie etwa ‚Der Jägersmann im Walde pfeift' bis hin zu den jüngeren Werken, wie ‚Die Axt, die Curtos Feller schwang' war für alle Geschmäcker etwas dabei. Doch kein Lied, so Maus, wäre stets derart lautstark mitgesungen und mitgeklatscht worden, wie ‚Das Lied der Jungfrau Nara'.

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