05 - Die Erben der Väter (2)

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Und wieder. Ein ersticktes Schniefen und Schluchzen drang aus dem Zimmer heraus an ihre Ohren. Zwar hatte Martyka ihr geraten, dass der Junge seine Ruhe bräuchte, doch Lena war sich dem plötzlich nicht mehr so sicher. Wäre es nicht besser, wenn er sich jemandem anvertrauen könnte? Sie wusste von sich selbst, dass es heilsamer war über Probleme zu sprechen, als sie im Herzen zu verschließen. Einer der vielen weisen Ratschläge, die ihr Hela mit auf den Weg gab und mit der sie sich über alle ihre Probleme und Problemchen hatte unterhalten können. Die alte Frau fand für alles eine Lösung, war immer in der Lage gewesen einen guten Rat zu geben. In diesem Moment wünschte sie sich ihr Kindermädchen von den Toten zurück. Sie hätte dem kleinen Jungen helfen können. Noch bevor die Sonne aufgehen würde, hätte Hela ihm wieder ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Mit ihrer positiven Ausstrahlung, ihren freundlichen, wenn auch traurigen, Augen und einigen wohlüberlegten Worten, hätte sie seine Tränen getrocknet. Doch Hela war tot und Lena am Leben. Sie selbst musste nun Dieke Brahmen zuhören, ihn langsam aus seiner Trauer herausholen. Wenn sie irgendwann einmal ihren Platz als Regentin von Venua einnehmen würde, durfte sie sich vor schwierigen Aufgaben nicht wegducken. Und was hatte Hela, diese weise, gute, alte Frau ihr einst gesagt? Sie sei sich sicher, dass Lena einmal eine gute Regentin werden würde und sie bedauere, diesen Tag nicht mehr erleben zu dürfen.

Ihre Familie glaubte nicht an Götter, doch wusste Lena genau über den einen Gott, den ihr Volk verehrte, Bescheid. Nach dem Tod eines jeden Menschen, entschied demnach das sogenannte letzte Gericht über Verdammnis oder Glückseligkeit.

Lena wünschte sich, dass Hela und Onkel Motte, sowie ihre Mutter, die sie nie kennenlernen durfte, von irgendwo über den Wolken, aus der Glückseligkeit, zuschauen und ihr die Kraft geben würden das Richtige zu tun.

Vorsichtig öffnete sie die leicht knarzende Tür und fand den Jungen mit den zerzausten, schwarzen Haaren unter seiner Bettdecke hervorlugen. Hastig wusch er sich die Tränen aus seinen geröteten Augen und richtete sich, mit dem Rücken zur Wand neben seinem Bett, auf. Wortlos starrte er Lena an. Sie schenkte ihm ein kurzes Lächeln, trat ein und schloss die Tür wieder hinter sich.

„Hallo Dieke. Kannst du auch nicht schlafen?", sagte sie mit leiser Stimme zu ihm. Er schüttelte den Kopf. Lena bewegte sich mit langsamen Schritten auf sein Bett zu. Im Kamin waren nur noch einige glimmende Scheite zu sehen, doch war der Raum immer noch in eine angenehme Wärme getaucht. Die beiden Kerzen auf Diekes Nachttisch, die das Zimmer in zusätzliches Licht tauchten, waren beinahe komplett abgebrannt.

„Hast du was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?", fragte sie ihn und räumte bereits das Tablett mit dem Essen, welches Saebyl ihm auf das Zimmer hatte bringen lassen, von dem Stuhl neben seinem Bett auf die kleine Kommode gegenüber dem Bettende. Dieke hatte die Speisen nicht angerührt. Lediglich die Milch war bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken. Er verfolgte aufmerksam jeden Schritt von Lena, die Lippen fest zusammengepresst. Sie hob den Stuhl an und stellte ihn neben das Bett, setzte sich und lächelte ihn erneut an. Der Junge wich ihrem Blick verstohlen aus.

Schließlich streckte sie ihm die Hand entgegen, was ihn kurz zusammenzucken ließ: „Ich habe mich noch gar nicht bei dir vorgestellt. Ich heiße Lena."

Dieke stierte kurz etwas verwirrt auf ihre Hand, ergriff sie dann allerdings und krächzte ihr ein heiseres ‚Ich bin Di' entgegen. Anscheinend war er selbst von dem Klang seiner Stimme überrascht. Er räusperte sich und rieb sich den Hals mit den Fingern seiner rechten Hand.

„Woher kommst du ursprünglich Di?", fragte Lena ihn. Doch bevor sie eine Antwort von ihm bekam, deutete er auf die Karaffe mit Wasser, die neben ihr auf dem Nachttisch stand. Sie verstand, schenkte ihm seinen Becher voll und reichte diesen weiter. Hastig stürzte der Junge das Wasser hinunter und seufzte anschließend erleichtert. Den Becher behielt er in beiden Händen und musterte diesen während seiner Antwort durchgehend: „Ich komme aus Klupingen. Doch jetzt wo mein Vater tot ist, bin ich mir nicht mehr sicher, wo ich denn wohnen soll. Ich habe niemanden mehr. Mein Vater erzählte mir einmal, dass wir noch entfernte Verwandte in Helmwangen haben. Das liegt am Tiefwasser, südlich von hier. Aber ich kenne diese Leute nicht, nicht einmal ihre Namen."

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt