36 - Die blaue Palu (1)

41 6 0
                                    

Sie träumte von abgehackten Fingern, zerschmetterten Gliedern, von Speeren, die sich durch weiche Körper bohrten und in Blut schrieb jemand ‚Ein Geschenk für die Regentin' auf die Leichenteile.

Neben vielerlei unsichtbarer Gestalten, starrte sie auch ein vertrautes Augenpaar aus der Dunkelheit an, warm und strahlend und voller Liebe. Rotglühend pulsierte die Narbe daneben, das Zeichen des Verräters. Worte von Krieg wehten ihr, wie ein feuriger Windhauch, entgegen. Ein Krieg, den der Mann mit der Narbe zu beenden gedachte. Lügen. Es waren nur Lügen und nur ein dummes, kleines Mädchen würde sie glauben.

Als Lena erwachte, war es noch dunkle Nacht und wie immer saß sie allein in ihrem Bett.

„Wie soll ich mich ausruhen, wenn mir nicht einmal mehr die Nachtruhe vergönnt ist?", fragte sie sich.

Die Regentin schob ihr Laken beiseite und erhob sich, um einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen.

Eine zarte Gänsehaut legte sich über ihren ganzen Körper. Es war eine kühle Nacht und feiner Nieselregen benetzte von außen das Fensterglas. Sie schlüpfte schließlich in einen flauschigen Hermelinmantel, auch um ihre Blöße zu bedecken, und trat hinaus in die Palastflure.

Ante Teng hatte den stummen Einar und Walo Falkmer als Nachtwächter abgestellt und damit ihre alten Wachen Celo und Harwin ersetzt. Beide schienen überrascht, als die Regentin plötzlich zwischen ihnen stand und wirkten regelrecht überfordert, als Lena sie bat, ihren Posten nicht zu verlassen und sie stattdessen allein ihrer Wege ziehen zu lassen.

Fast geräuschlos bewegte sie sich durch die dunklen Flure des Palastes, den einst die Stadtherren Moteems hatten erbauen lassen und welchen ihr Großvater zum Sitz seiner Familie auserkoren hatte. Lena Venua war die letzte dieser Blutlinie. Die letzte Venua des gleichnamigen Reiches. Einzig das Blut ihrer Mutter verband sie noch mit ihrem Halbonkel Magnus, den sie kaum kannte und von dem sie nicht einmal wusste, wie er heute überhaupt aussah. Martyka und Sira hatten es mehr oder minder angesprochen, obgleich sie der Gedanke nie wirklich losgelassen hatte. Sie brauchte einen Gemahl, mit dem sie einen Erben zeugen konnte, um die eigene Linie fortzusetzen.

„Vater hat mir Palu Menk vorgeschlagen", erinnerte sie sich, doch ihn kannte sie noch weniger als Magnus Strietkamp. Mit seinen fünfzehn Jahren war der älteste Menk-Sprössling zwei Jahre jünger als sie und dabei noch ein halber Junge, selbst wenn er seinem Vater in Sachen Körpergröße in nichts nachstand, wie man erzählte.

„Ein großartiger Schwertkämpfer, riesig und stark. Ein guter, höflicher, intelligenter und zuvorkommender Junge", waren die am Häufigsten genannten Zuschreibungen in den Lobliedern der westländischen Gefolgschaft ihres Schwertes. Doch wollte sie keinen Jungen. Sie wollte, ja sie brauchte einen Mann an ihrer Seite. Auf Liebe wollte sie dabei jedoch nicht mehr hoffen.
„Liebe hat mir nichts als Enttäuschung gebracht", flüsterte sie und meinte damit nicht einmal ausschließlich den einen Mann, den sie auch körperlich geliebt hatte und der sie nun gar in ihren Träumen verfolgte.

Während sie durch die halbdunklen Gänge schlich, genoss sie die nächtliche Ruhe innerhalb der dicken Mauern. Auch die anderen Wachen staunten nicht schlecht, angesichts jener Spaziergängerin, die zu dieser ungewohnten Zeit an ihnen vorbeischritt. Sie passierte die Gemächer, in denen die Westländischen untergebracht waren. Einige von ihnen schnarchten so laut, dass man sie durch die geschlossenen Türen hindurch hören konnte. Ursprünglich wollte Menk samt Gefolge dieser Tage wieder die Heimreise antreten, doch angesichts des gesundheitlichen Zustands ihres Schwertes, sowie der allgemeinen Aufregung um das unsägliche Geschenk aus Namun, war dies eher unwahrscheinlich.

Sie erreichte den Arm des Palastes, dessen Zugänge von Ante Tengs Männern nun zu jeder Tageszeit bewacht wurden, und blieb an einem der mannsgroßen Fenster stehen. Kühler, feuchter Wind umstreichte ihren nackten Knöchel, während sie in die mondlose Nacht hinausstarrte, die sich über den Palastgarten gelegt hatte. Feine Tropfen perlten vom Rundbogen über ihr und fielen hinunter auf den feuchten Stein zu ihren Füßen, wo sie lautlos zerplatzten. Ungefähr so war es auch Perem Penthuys' Kopf ergangen, als er aus dieser Höhe in den Garten stürzte. Als Mendo Warigna ihn in den Tod geschubst hatte, weil er der irren Annahme anhing, der alte Mann stünde zwischen ihm und seiner Geliebten.

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt