23 - Mutter Marika (2)

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Das glaubte er gerne. Seit er auf der muffigen, mit Stroh gestopften, Matratze lag, waren seine Schmerzen am Abklingen. Salli hatte ihn aus der Halle mit dem großen Tisch, über eine knarrende Holztreppe, hinauf in ein stickiges Obergeschoss geführt, welches von einem weiteren großen Rundfenster an der Frontwand erhellt wurde. Noch bevor er einen Blick auf die unzähligen Matratzen werfen konnte, die da der Länge nach, die beiden Wände entlang und auf der Gegenüberliegenden, aufgereiht lagen, war ihm schon der typische Geruch von Schlaf und Rast in die Nase gestiegen.

Hier nächtigten sie alle zusammen. Salli, der stumme Junge, die alte Frau ‚Mama', Tante Lina und die anderen Kinder. Doch waren sie keine große Familie, wie er von seiner gegenwärtigen Pflegerin erfahren durfte. Hegte er von Beginn an Zweifel an dieser Einschätzung, so hatte er nun seine Bestätigung bekommen.

Mutter Marika, so der Name der alten Frau, war das Oberhaupt dieses Waisenhauses, in dem Di in jener kurzen Zeit mehr Gastfreundschaft erfuhr, als in all den Wochen in Diensten des alten Gunnet Bohns.

Auf die Frage, weshalb ein Junge wie er sich in die Straßen des Sonnenscheins verirren konnte, vermied er es eine ehrliche Antwort zu geben.

So verdreckt sie auch sein mochte, seine Kleidung, von seinen geliehenen Flickenschuhen einmal abgesehen, verriet ihn immer noch. Er passte nicht hierher.

„Ich wollte mich nur umsehen", log er und biss die Zähne zusammen. Im Nachhinein waren ihm so viel bessere, glaubwürdigere Ausreden eingefallen, doch nun hatte er sich festgelegt.

Auch wenn er das Lügen hasste und Tante Lina nicht im Geringsten den Anschein machte, ihm etwas Böses zu wollen, so musste er doch wieder an Pakys Worten denken. Ihm war auf den sogenannten ‚Straßen des Sonnenscheins' schon genug Ablehnung entgegengebracht worden und diese Leute wussten ja nicht einmal, dass er für Gunnet Bohns arbeitete und von ihm womöglich mehr Lohn bezog, als vermutlich jeder andere, der hier lebte, sofern er denn überhaupt irgendwo in Lohn und Brot stand.

„Was ist mit deinen Eltern?", wollte Lina wissen?

Di schluckte. Plötzlich packte Gekk Bauwer ihn wieder an der Schulter und rief ihm die Worte zu, die ihn einst in eine Art Schockzustand versetzten. Der Nebel, der auf ihn herabschoss, seine schmerzenden Glieder, der Regen auf seinem Gesicht, als sie zwischen den Palisaden standen und erstmals wieder die Luft ihrer Welt einatmen konnten. All das war plötzlich wieder real.

Doch es war nicht der Regen, es war eine Träne, die ihm die linke Wange herunterlief.

Lina hatte ihn genau beobachtet. Da half es auch nichts sich flugs den salzigen, verräterischen Trauertropfen wegzuwischen.

Sie fragte nicht weiter nach, schließlich kannte sie ja nun die Antwort und Di schämte sich nur noch mehr deswegen.

Wie lange war er eigentlich schon unterwegs? Zwei Stunden? Drei Stunden? Gunnet Bohns würde nicht ewig seinen Mittagsschlaf halten, wusste er. Was er hingegen nicht wusste, sich allerdings in allen denkbar furchtbaren Varianten auszumalen vermochte, war dessen Reaktion auf Dis Fernbleiben. Ob es nur beim Zetern und Toben bleiben würde? Wohl kaum.

Er würde ohne seine Schuhe nach Hause kommen. Einzig Mutter Marikas Fetzen an seinen Füßen. Die blauen Flecken zu verbergen wäre für ihn ja ein Leichtes gewesen, doch seinen fehlenden Zahn könnte er ebenso wenig verstecken, wie seine aufgeplatzte Lippe.

Erneut erläge er der Versuchung Lügen zu sprechen. Lügen um seine Taten zu verschleiern. Das Verständnis des einen Gottes, sofern ihm dies überhaupt jemals entgegengebracht wurde: Aufgebraucht! Ausgeschöpft!

Als Sünder gäbe es für ihn keine Gnade vor dem letzten Gericht.

Weil er sich an die Wahrheit hielt, überrollte Di förmlich eine Welle des Zorns. Gunnet Bohns' menschliches Antlitz zerfloss zu einer monströsen Fratze, nachdem Di ihm mit gesenktem Blick erzählte, wo er sich herumgetrieben hatte und was ihm widerfahren war. Die toten weißen Augen des Blinden leuchteten wie Feuer, welches ihn zu verzehren gedachte. Wie brennende Ranken züngelten sie nach ihm, bevor sie schließlich den Himmel über ihnen in Brand setzten, der sich so rasch, als bestünde er aus Stroh, in ein weitläufiges Meer aus Flammen verwandelte.

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt