36 - Die blaue Palu (3)

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„Er weinte. Euer Großvater weinte vor meinen Augen. Es waren Tränen der Traurigkeit, doch vermischt mit Tränen des Zorns. Er weinte um seinen Bruder, verfluchte die Götter, den Einen wie die Mutter, und er verfluchte Hohepriester Nobossop und seine Schergen. Er vergoss Tränen, ob der Tatsache, dass er nicht mehr von ihnen hatte töten können.

Er ärgerte sich maßlos darüber, dass alle anderen Angst davor hätten, auf dem fremden Kontinent zu kämpfen. Und schließlich ließ er Worte folgen, die mein damaliges Weltbild erschütterten. Ich erkannte erst später, dass es nur allzu menschlich und auch Palu Venua letztlich nur ein Mensch war, aber in jenem Moment konnte ich nicht glauben, was ich hörte.

Er erzählte davon, wie er seinen ersten Gegner niederstreckte. Einen jungen Kerl aus Motts Garde, der den tollkühnen Versuch wagte, die Reihen der aufbegehrenden Moteemer zu sprengen, die sich in den Straßen zusammenrotteten. Palu Venua habe ihm, aus einer unkontrollierten Bewegung heraus, eine Axt mitten ins Gesicht getrieben.
‚Es war, als führe eine fremde Macht meine Hand', erzählte er meinem Vater. Verzeiht mir, wenn ich seine Worte nicht eins zu eins wiedergeben möchte, aber im Anschluss erklärte er, wie es ihm, beim Anblick des vielen Blutes, aus allen Körperöffnungen gekommen sei. Den Rest der blutigen Auseinandersetzung erlebte er unbeteiligt, doch jene Erfahrung setzte sich in ihm fest, wie er sagte.

Mit seiner Axt habe er eine Wandlung eingeleitet. Die Wandlung vom unbedarften Jungen zum Mann.

Ich erinnere mich noch genau an einen bestimmten Satz von ihm, den er hierzu folgen ließ: ‚Nur wer die Angst überwindet, und sei sie noch so groß, nur dem bietet sich die Gelegenheit zu einem großen Mann zu werden. Und nur ein großer Mann führt die kleineren Männer zum Sieg. Wenn wir gewinnen wollten, musste ICH zu dem Mann werden, der an der Spitze vorwegmarschiert.'

Und im Bezug auf Namun fügte er an:

‚Wenn man einer Wespenplage Herr werden will, dann reicht es nicht, nur nach den Wespen zu schlagen, die einen umschwirren. Man muss deren Nest ausräuchern, es verbrennen, andernfalls wird man niemals zur Ruhe kommen.'

Weder Euer Vater noch ich hatten je auch nur einen Gedanken daran verschwendet, dass unsere Helden, unsere großen Vorbilder, zu Angst oder Trauer fähig seien. Ich habe Eurem Vater nie davon erzählt, dass ich an jenem Abend gelauscht hatte. Ich fühlte mich schuldig, ich fühlte mich schlecht."

„Ihr wart ein kleiner Junge", gab sich Lena beinahe entschuldigend.

„Ich habe in meinem Leben noch keinen anderen Menschen getötet, meine Regentin", entgegnete Fisi, „doch die Worte des großen Palu Venua haben an diesem Tag meine Wandlung vom unbedarften Jungen zum Mann eingeleitet. Allein seine Worte haben dies bei mir bewirkt."

Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre ihr das Erzählte zunächst so vorgekommen, wie der Geschichte eines Narren entsprungen, doch das Lächeln ihres Erzählers, gänzlich aus dessen Gesicht verschwunden, bewies ihr das Gegenteil. Eine größere Wahrheit konnte es nicht geben.

Sie hatte keine Ahnung, dass der Schmerz, über den Verlust seines Bruders, ihren Großvater derart geplagt hatte. Niemand hatte ihr erzählt, dass auch er nicht, von Beginn an, der große Krieger gewesen war. Das passte alles nicht in das Bild, welches sie, ein kleines unbedarftes Mädchen, von ihm hatte.

Keineswegs als unpassend empfand sie hingegen seinen Satz über das Wespennest. Mochten sich die Plagegeister über Jahre hinweg ruhig verhalten haben, so war doch heuer erneut das Leben in deren Brutstätte eingekehrt.

Zeitgleich beantwortete diese Weisheit die Frage, wie die Reaktion des ersten Regenten Venuas auf das namunsche Geschenk ausgefallen wäre. Es hätte keine Nacht, ja wohl nicht einmal eine Stunde gedauert, bis er zu den Waffen gerufen hätte und keiner seiner Berater, nicht einmal Millot Menk, hätten ihn dann noch von diesem Vorhaben abbringen können. Und sie zögerte noch? Große Männer zweifeln nicht. Für große Frauen galt demnach das gleiche. Doch zuerst musste sie endlich den Wandel zu einer großen Frau vollziehen.

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