01 - Die Nebel des alten Volkes (2)

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Er kannte den Weg zum großen See. Dazu musste er nur die Siedlung durchqueren und zum nördlichen Tor hinaus, an zwei weiteren Titanfäusten und einem grotesk geformten, mit Moos bewachsenem, Felsen vorbei, der wie eine dicke Frau ohne Arme und Beine aussah. Einige der Dorfbewohner begannen miteinander zu tuscheln, als sie ihn durch ihre Mitte rennen sahen.

„Der Kal-Händler ist wieder da", bedeute dies und er würde „frische Schätze der Erdenläufer" mit sich bringen. Früher konnte Di die Aufregung nicht verstehen. Sein Vater brachte ihnen für gewöhnlich Rüben, Kefe, Blumenkohl und anderes Gemüse und würde dafür ebenso große Mengen an süßen und sauren, wässrigen und mehligen Früchten erhalten, die die Buranier im Überfluss besaßen. Sich diese selbst zu pflücken, birgte große Gefahren. Gab es hier unten doch ebenso viele giftige, wie ungiftige Obststräucher und ein unerfahrener Sammler hätte sich rasch den Tod gepflückt. Es existierten die unterschiedlichsten Gifte, wie Suki ihm erklärt hatte. Manche sollen einen derart quälenden Juckreiz hervorrufen, dass man dem Wahnsinn verfallen, sich unaufhörlich blutig kratzen und somit am Ende verbluten würde. Andere Gifte ließen einen angeblich von innen heraus erfrieren, während man hingegen direkt unter der Haut verglühte. Wiederum andere sorgten bereits für heftigen Hautausschlag, wenn man sie nur berührte und führten zum sofortigen Tod, sollte man so töricht sein auch noch davon zu essen. Die Natur unter den Nebeln besaß somit nicht nur eine gewisse Schönheit, sondern zweifelsohne auch eine Tödlichkeit, welche Di aus seiner Welt so nicht kannte.

Der provisorisch angelegte Pfad auf der Nordseite der Siedlung, umgeben von wild wachsendem Dickicht, deren kleine Ästchen und Zweige wie hunderte dünner Arme nach ihm zu greifen schienen und durch die er sich mit eingezogenem Kopf und mit schützend vor seinem Gesicht hochgehaltenen Armen hindurchkämpfte, führte ihn direkt auf eine Art große Lichtung, auf dem die beiden Titanfäuste standen, deren massive, dicke Wurzeln alle konkurrierenden Pflanzen um sie herum verdrängt hatten. Bei diesen Beiden handelte es sich wohl noch um junge Bäume, denn sie waren gerade mal so breit wie die beiden Eselskarren, mit denen er und seine Begleiter hergekommen waren, wenngleich sie trotzdem bereits so hoch emporragten, dass sie sich durch den, mit Blicken nicht zu durchdringenden, Nebel in die Höhe streckten und dort im Nichts verschwanden.

Als er ein knackendes Geräusch vernahm, blieb Di stehen und blickte sich überrascht um. Außer den munteren, nie verstummenden Geräuschen der Insekten um ihn herum, war nichts zu hören und außer die beiden riesigen Baumstämme, das Gewirr aus armdicken Wurzeln und das Dickicht das die Lichtung einzäunte, nichts zu sehen. Wieder hörte er das Geräusch und zuckte dieses Mal zusammen.

„Wieso so ängstlich, Di?", hörte er eine hohe, melodische Stimme rufen.

Suki lugte unter einer riesigen Wurzel hervor und kam langsam, mit einem freudigen Lächeln im Gesicht, auf ihn zugelaufen. Sie war noch schöner, als in seiner Erinnerung. Ihre langen, feuerroten Haare, die ihr bis knapp über den Po reichten, klebten nass an ihrem Rücken. Auf ihrer weichen, beinahe schneeweißen Haut glänzten noch einige Wassertropfen.

Um ihre kleine Stupsnase zeigten sich wieder, wie bei jedem ihrer Lächeln, die Grübchen, an die er sich so gerne erinnerte. Ihre Lippen blutrot, ihre Beine länger als je zuvor und unter dem Stoff, mit dem sie ihre Brüste verdeckte, da konnte er mittlerweile kleine, wohlgeformte Hügelchen erkennen.

Sie fiel Di um den Hals und drückte ihn fest. In ihrem Geruch schwang neben der Natur noch etwas Süßes mit, das Di nicht so recht zu bestimmen vermochte.

„Es freut mich so sehr dich wiederzusehen", flüsterte sie ihm ins Ohr. Oh, und wie er sich erst freute. So sehr, dass ihm zunächst sämtliche Worte im Halse stecken blieben. Erst jetzt bemerkte Di, dass Suki ihn nun etwa zwei Finger breit überragte.

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt