15 - Der Herr der Ostlande (1)

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Seit sie Millot Menk das letzte Mal gesehen hatte, waren schon einige Jahre ins Land gezogen. Damals war Lena noch ein kleines Mädchen gewesen. Sie erinnerte sich, wie sie Menk, ihrem Vater gegenüber, als den größten Mann der Welt bezeichnet hatte und von dieser Meinung bis zum heutigen Tage auch nicht wieder abrücken musste. Wie ein Baum überragte er den damaligen Hauptmann der Stadtwache, Girot Grauwasser, der selbst eine derart beachtliche Körperlänge maß, dass er in der Lage gewesen war, über alle anderen Köpfe hinwegzublicken.

Doch die Jahre vergingen und aus der hochgewachsenen ‚Eiche der Westlande', wie man Menk in dessen Heimat gerne nannte, war ein kranker, alter Baum geworden, dessen Stamm unter der Last seiner Jahre ächzte.

Gebeugt gehend, von zwei jungen Burschen gestützt, hatte das Schwert der Regentin seine Mühe die vielen Treppenstufen, empor zu den Eingangstüren des Palastes, zu nehmen. Ein Vorgang, der sich schier endlos zu ziehen schien. Hinter ihnen her, erklommen zwei weitere hochgewachsene Personen in Kettenhemd und schweren Stiefeln, je ein riesiges Schwert an der Hüfte baumelnd, eiserne Hörnerhelme tragend, die marmornen Stufen. Lena wusste, dass es sich dabei um Millot Menks Leibgardisten handelte: Ludvek Vandel und Almuth Stein. Ein stummer Hüne und ein riesenhaftes, furchteinflößendes Weib.

Geduldig warteten am Ende der Stufen Lena, flankiert von Palasthauptmann Tenth Barke und ihrem Berater Perem Penthuys, sowie nahezu ihrer kompletten übrigen Beraterschaft. Ausnahmen bildeten hier Gunnet Bohns und Jessel Schooke, die beide aus unterschiedlichen Gründen dem Empfang der Westländischen nicht beiwohnen konnten.

Sie fand es überaus ungerecht, als sie diesen blassen Greisen die Treppe emporschleichen sah.

Wieso durfte ein derart alter Mann, der nicht einmal mehr in der Lage war selbstständig, geschweige denn aufrecht, zu gehen, noch unter den Lebenden weilen, während ihr Vater im Schatten des großen Baumes begraben lag? Millot Menk, einer der letzten lebenden Männer, die im großen Krieg an der Seite ihres Großvaters gekämpft hatten. Weder der Krieg, noch das Alter konnten den zähen, alten Knochen endgültig in die Knie zwingen.

Passend zu ihrer Augenfarbe, trug Lena ein langes, kristallblaues Kleid aus Spitze, eigens für diesen Anlass angefertigt. Mit dünnen Silberfäden waren zu beiden Seiten die drei Schwerter in den Stoff eingearbeitet worden. Ein Muster, welches man nur aufblitzen sah, wenn sich die Trägerin im richtigen Licht bewegte. Eine nette, kleine Spielerei, die ihr besonders gut gefiel. Um ihren Hals und über die freiliegenden Schultern schwang sich ein weicher, rötlich-schimmernder Fuchspelz und in ihre nurmehr kurzen Haare hatte Sira weiße und blaue Blumen eingeflochten.

Seit sie in dieser Aufmachung aus ihrem Zimmer geschritten war, erntete sie ausschließlich Komplimente.

Das wandelnde Bierfass, Barke, ließ einen lauten Seufzer entweichen, angesichts des, sich hinziehenden, Spektakels auf den Palaststufen. Ein kurzer, durchdringender Blick Penthuys' genügte, um ihn erkennen zu lassen, dass ein solches Verhalten in höchstem Maße unangebracht war. Daraufhin räusperte er sich kurz und versuchte wieder Haltung anzunehmen, was sich gar nicht so einfach gestaltete. Sein riesiger Bauch zog, wie ein großer Gesteinsbrocken, seinen Oberkörper nach vorne, sodass seine Haltung stets als ein wenig gebückt bezeichnet werden konnte. Ob Barke überhaupt noch der richtige Mann war um die Palastwache anzuführen? Wenn Lena seinem lauten, rastlosen Schnaufen lauschte, welches mit jeder noch so kleinen Anstrengung einher ging, kamen ihr doch erhebliche Zweifel an seiner Tauglichkeit.

Und Penthuys zu ihrer Rechten? Es zeigte sich immer offensichtlicher, dass er insgeheim den Posten als ihr oberster Berater anstrebte. Auch jetzt hatte er sich wieder an ihre Seite gedrängt.

Zugegeben, sie ließ sich enorm viel Zeit mit der Erwählung eines Nachfolgers des ermordeten Elisus Hofken, doch fiel es ihr auch ungeheuerlich schwer sich zu entscheiden. So wirklich überzeugt war sie von Niemandem aus ihrer Beraterschaft. Natürlich mochte es sich um gute, weise Männer handeln, auf deren Wissen und Rat man sich verlassen konnte. Auch ihre Loyalität stand für sie völlig außer Frage.

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