29 - Der Zorn Venuas (1)

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„Schafft das aus unseren Augen", rief Kal Zigel dem Hauptmann der Palastwache, Ante Teng, aufgeregt zu. Alle hatten sie mittlerweile einen Blick auf den Inhalt des Kästchens geworfen, welches der Tai, nach wie vor, mit fassungsloser Miene auf Brusthöhe hielt. Dabei wirkte er, so regungslos wie er an Ort und Stelle verharrte, beinahe wie eine bunt angemalte Statue. Wäre sie selbst nicht so schockiert gewesen, hätte Lena darin fast eine etwas unfreiwillige Komik erkennen können.

Einzig der blinde Gunnet Bohns war letztlich auf seinem Platz geblieben, doch klebte ihm bereits sein blonder Bursche an der Seite, der ebenfalls einen Blick gewagt und anschließend zu seinem Geldgeber geeilt war, um diesem seine Beobachtung ins Ohr zu flüstern. Ob Bohns daraus die richtigen Schlüsse ziehen konnte?

Teng, neben den umherstehenden, an den Wänden aufgereihten Wachen, die ebenfalls angeregt ihre Ohren spitzten, bewahrte als Einziger Haltung. Er suchte den Blick seiner Regentin, die ihm nickend die Aufforderung Zigels bekräftigte.

„Bringt es weg von hier. Bringt es weit weg und nehmt das Bild vor meinen Augen am besten gleich mit", dachte sie sich.

Während die einen, wie Zigel, aber auch Dymen Steinfurt angestrengt ihre Wut unter Kontrolle zu halten versuchten, rangen die Übrigen um Fassung, während Fisi sichtlich beeindruckt das Kistchen mit der eingeritzten namunschen Aufschrift in die Hände des Hauptmannes legte, der dieses, schnellen Schrittes, aus dem großen Ratsaal brachte. Mit hölzernen Bewegungen griff der Tai nach der Lehne seines Stuhls um sich erst einmal niederzusetzen.

Jetzt hätte sie die Unbekümmertheit des Tais einmal dringend benötigt, um der Situation ihre Ernsthaftigkeit zu nehmen. Um sie von ihrer Fassungslosigkeit, ihrem Ekel, ihrer inneren Lähmung zu befreien. Stattdessen spielte er nur gedankenversunken an den Spitzen seines Schnauzbartes herum, den Blick angestrengt nachdenkend gen Boden gerichtet, während Zigel und Steinfurt noch immer lautstark Flüche und Drohungen gegen einen Unsichtbaren ausstießen, sich regelrecht gegenseitig in ihrem Zorn aufstachelten.

Auf den ersten Blick hatte sie den blauen, ovalförmigen Stein erkannt und ihn seinem Besitzer zuordnen können. Das Juwel erinnere ihn stets an ihre beiden Augen, hatte er einst erzählt. Damals im Beisein ihres Vaters, der seine Aussage eher als Alberei begriffen hatte und daraufhin ein erfreutes Lächeln aufsetzte. Lena, damals noch keine zehn Jahre alt, war sich hingegen sicher, dass er nicht scherzte. Auch wenn es sie stets etwas ärgerte, wenn man sie als ‚blauen Palu' bezeichnete, so konnte sie ihm für diese Aussage nie wirklich böse sein.

Er war schon so lange weg, dass sie sich manchmal fragte, ob sie denn je wieder etwas von ihm hören würde. Ihre schlimmsten Befürchtungen, nämlich das er und seine Begleiter der voreilige Tod ereilt haben könnte, schienen sich zu bestätigen. Nein, schlimmer noch.

Der grau-schwarz verfärbte Finger von Ansakar Bollet, den glänzenden Saphirring angesteckt, gebettet auf flauschig-weißem Stoff, gesprenkelt mit dem Blut der einst frischen Wunde, welches mittlerweile so dunkelbraun wie eingetrockneter Kirschsaft aussah, sendete keine frohe Botschaft.

Vielleicht wirklich eine Art Kriegserklärung von ihren Feinden über dem Wasser, wie es Steinfurt lauthals ausgerufen hatte?

Was auch immer Ansakars Ziel gewesen sein mochte, der Hohepriester und der König mussten ihn irgendwie in die Finger bekommen haben.

Und nun sendeten sie ihr den Finger ihres Beraters. War das ihr Weg der Regentin von Venua mitzuteilen, dass sie nach Vergeltung sannen?

Rache für den Krieg, den Lenas Großvater einst gegen deren Eltern und Großeltern führte und gewann? Der Krieg, der dem westlichen Kontinent seine aktuelle Einigkeit brachte und somit die Herrschaft der vielen Familien beendete, die damals bereit waren ihre Macht, gemeinsam mit den namunschen Göttern über ihren Köpfen, zu sichern?

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