09 - Die letzten Flammen (1)

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„Vater", war der letzte Ausruf, an den sie sich erinnern konnte. Boko hatte sie von dem Podest heruntergezerrt. Dabei verdrehte sie sich schmerzhaft den Fuß, was sie allerdings erst später bemerken sollte. Der große, ergraute Mann, der sie in seinem unerbittlichen Klammergriff festhielt, war so viel stärker, als er äußerlich den Anschein machte. Hastig zog er sie vom Ort des Geschehens weg. Dass er ihr dabei weh tat, kümmerte ihn wenig. Alles was für ihn zählte, war ihr Leben. Das musste er ihrem Vater Pisao schwören, bevor dieser ihn zum Kaymo, dem ersten Krieger des Kayken, machte. Sukis Leben hatte er stets über das ihres Vaters zu stellen, erklärte er ihr später, als er sie in ihrer Hütte untergebracht und in Sicherheit wusste.

Nur wenige Minuten zuvor war in ihrer Siedlung das blanke Chaos ausgebrochen, nachdem man ihrem Vater einen Pfeil durch den Hals gejagt hatte. Geistesgegenwärtig hatte Boko sie gepackt und hierher gebracht, während die Menschenmenge, wie ein in Aufruhr versetzter Insektenschwarm, auseinander gestoben war. Wildes, unkontrolliertes Geschrei beherrschte die Luft.

Während sie sich, halb torkelnd, halb über den Boden schleifend, durchgehend in Bokos Umklammerung, auf dem Weg in die Hütte ihres Vaters befand, konnte sie beobachten, wie sich die Menschen gegenseitig über den Haufen rannten. Wie Männer und Frauen mit ihren kleinen Kindern in den Armen das Weite suchten und ebenso, wie flüchtende Dorfbewohner ihre Mitmenschen, die das Gleichgewicht verloren hatten, unter sich begruben. Blut und Tränen mischten sich somit unter den Staub, den Dreck und das Geschrei.

Sie zitterte. Ihr Herz pochte so schnell, als wollte es aus ihrer Brust ausbrechen. Kaymo Boko schloss die Tür, die aus zusammengeflochtenen, dünnen Ästen bestand und wandte sich ihr zu.

Sie saß auf dem Boden, mit dem Rücken an die Wand gepresst und blickte ihn, flach und schnell atmend, mit großen Augen an.

„Geht es dir gut? Bist du verletzt?", fragte er sie, nachdem er sich vor ihr auf sein rechtes Knie niedergelassen und ihre rechte Hand in die seinen genommen hatte.

Sie nickte nur, auch wenn ihr linker Fuß schmerzend vor sich hin pochte.

Suki entledigte sich ihres roten Umhanges, dem Unmengen von Schlamm und Dreck anhafteten.

Auch in ihrem langen, feuerroten Zopf, aus dem sich vereinzelt die eingeflochtenen Blumen, Ahnenaugen hießen sie, herausgelöst hatten, klebte die braune Erde. Ebenso an ihren Armen und Beinen.

„Was ist mit Vater?", war das einzige, was sie mit ihrer zittrigen, dünnen Stimme herausbrachte. Natürlich hatte sie gesehen, was passiert war, doch vielleicht war das hier alles nur ein böser Traum und Boko würde sie aus diesem erlösen. Doch der ergraute Kaymo senkte nur sein Haupt, schloss seine glasig glänzenden Augen und presste angestrengt seine Lippen zusammen. Das war schon Antwort genug. Nicht die, die sie sich gewünscht, doch genau die Antwort, die sie erwartet hatte.

Ihr Kopf drohte zu zerbersten. Jedenfalls fühlte es sich so an. Aufgeregt versuchte sie noch mehr Luft in ihre Lungen zu inhalieren, doch ihre Kehle hatte sich zugeschnürt. Die Hitze war plötzlich unerträglich geworden. Sie wusste nicht mehr genau, ob nun Schweiß oder Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Bokos Antlitz verschwamm allmählich vor ihren Augen und bald erlöste die Dunkelheit sie von ihrer Pein.

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie nicht bei Bewusstsein gewesen war, doch als sie wieder zu sich kam, bemerkte sie, dass man sie auf weichem Wühlerfell zur Ruhe gebettet hatte. Ihre Haare trug sie wieder offen und waren ebenso vom Dreck befreit, wie auch ihr Körper, den man offensichtlich gewaschen hatte. Ihr roter Umhang und der feine Stoff, welchen sie noch zur Verkündung trug, war gegen ein dünnes, verblichen graues Hemd getauscht worden, welches ihr bis zu den Knien reichte. Ein Stück Stoff eines Händlers der Erdenläufer. So nannten sie die Menschen von Oben. Sukis nackte Waden und Füße fühlten sich schwer an. Eine ganze Zeit lang starrte sie lediglich an die Decke ihrer Hütte und betrachtete die dünnen Äste und Stöcke, die fein säuberlich, parallel zueinander angeordnet, das Dach über ihrem Kopf bildeten.

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt