44 - Die Bestien (1)

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Lena war schon seit Jahren nicht mehr in Venhaven gewesen. Das letzte Mal in Begleitung ihres Vaters und Elisus Hofkens sowie einer Hundertschaft ihrer besten Soldaten, angeführt durch Hauptmann Mendo Warigna. Damals war der Grund für ihr Kommen Henslo Heimers siebzigster Namenstag gewesen. Den betagten Stadtverwalter hatte sie unlängst durch Donte Herwet ersetzt und Letzteren somit wiederum aus ihrer Beraterschaft entfernt. Auf dessen, vor Unwissenheit und Angst strotzenden, Empfehlungen konnte sie nämlich gut und gerne verzichten, nicht jedoch auf seine anderen Fähigkeiten, welche er zweifelsohne besaß.

Auch vor Jahren hatte Heimers die Hauptstraße säubern und die Bäume und Sträucher entlang ihres Weges schmücken lassen, doch konnten auch buntes Tuch und Fahnen damals nicht verdecken, dass die einst florierende Hafenstadt heruntergekommen war und niemanden einlud, sich an einer, wie auch immer gearteten, Schönheit zu erfreuen.

Auch Donte Herwet musste kaschieren, was noch nicht ins Reine gebracht war. Reihenweise hatte man alte, kranke Bäume entlang der Straßen gefällt und dafür neue gepflanzt, Blumenbeete angelegt und ausufernde Dornenhecken zurückgeschnitten. Brunnen waren restauriert, Straßen ausgebessert worden und doch prägten bröckelnde Hauswände, Schlaglöcher auf den Wegen und Geröllhaufen an deren Rändern das Stadtbild. Die Bewohner der Hafenstadt zeigten sich äußerst skeptisch angesichts der vielen fremden Venurischen, blieben daher lieber in ihren Häusern, sodass man manches Mal meinen konnte, man befände sich nicht in einer Stadt, sondern auf einer Baustätte inmitten einer Kaserne. Handwerker arbeiteten derweil an eingefallenen Lagerhallen, bauten diese neu auf oder funktionierten sie zu Soldatenunterkünften für Reservetruppen um, sofern jene nicht gänzlich weichen mussten. „Mich erstaunt, wie wenig Münzen wir investieren müssen, um uns den Besitz der Hafenmänner aneignen zu können", hatte Gurravo Shrink zuhause in Venuris regelrecht frohlockt. Mit den ‚Hafenmännern' waren die Nachfahren derjenigen gemeint, die einst in großem Maße vom Handel mit Namun profitierten und welche nun glücklich darüber waren, ihre ertraglosen, übriggebliebenen Besitztümer aus alten Zeiten veräußern zu können. Eine Zeit, als die Dekarchen noch die Hafenstadt regierten, die die Bürger der Stadt jedes Jahr aufs Neue unter sich auswählten. Viele nannten Moteemshaven daher rückblickend die einzig wahre, freie Stadt des Westkontinents.

Donte Herwet hatte eigens den alten Dekarchenturm geräumt, damit die Regentin diesen in der Zeit ihrer Anwesenheit bewohnen konnte. Dekadenz war kein Laster der alten Friedenswächter gewesen, sodass der weiße Rundturm mit der weitläufigen Aussichtsplattform auf dessen Krone zwar erhaben die Stadt überragte, in seinem Inneren jedoch eine beruhigende Schlichtheit beherbergte.

Lena durfte in einem weichen Federbett schlafen, knisternde Feuer in einem halbrunden Kamin genießen, ausgewählte Speisen von Heimers ehemaligem Leibkoch zu sich nehmen. Sie liebte es, wenn sie von ihrer Aussicht in die heimelige Stube zurückkehren und dabei den, ihren Kleidern anhaftenden, salzigen Geruch des Meeres durch das weite Rund tragen durfte. So sehr sie den betörenden Duft der weiten Welt gierig in sich aufsog, so sehr vermisste sie die Geselligkeit im vertrauten Muff des Palastes in Venuris. Immerhin musste sie keine Einsamkeit fürchten.

„Vierzig Schiffe bis zum Tag des Aufbruchs hat Euch Dymen Steinfurt zugesagt. Palu Menk berichtet in seinem Brief von dreiundsechzig aus Triport, Hochklipp und Willenfurt, wie auch einer mindestens ebenso zahlreichen Reserve."

Der Tai nippte an einem Kelch Korkun'schen, während er mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem grasgrünen Sessel vor dem Kaminfeuer saß. Im Feuerschein wirkte sein Schmetterlingsbart, als würde er gleich davonfliegen wollen. Wann immer er sprach, glitzerten seine beiden falschen Zähne wie flüssiges Gold. Als er ihren Blick suchte, trank sie ebenfalls rasch einen Schluck.

„Ihr hingegen habt mir hundert Schiffe versprochen, werter Freund, so viele wie Mitt- und Westlande zusammen also. Oder wolltet Ihr damit nur testen, ob ich ein leichtgläubiges Mädchen bin, das den Übertreibungen eines alten Mannes auf den Leim geht?", versuchte sie ihn zu necken.

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