07 - Die Geschenke der Mutter (2)

33 9 0
                                    

Die Fackel in Tereks Hand spendete kaum Licht hier unten. In den dunklen Hallen unter der Sonnenpyramide, mit ihren langen, verwinkelten Gängen, wurden die Flammen, so schien es, von der Dunkelheit verzehrt. Immerhin brachte das Feuer Wärme an diesem ungewohnt kühlen Ort. Seit dem Tag, als er zusammen mit Zet, den die Blindheit und die damit einhergehende Verbitterung damals noch nicht heimgesucht hatte, durch diese Gänge marschiert war, hatte er die Katakomben nicht mehr betreten. Doch der vor ihm liegende Weg hatte sich, unerklärlicherweise, in sein Gedächtnis eingebrannt. Wie Zet ihm bereits erklärt hatte, schärfte die Abstinenz des Augenlichts die anderen Sinne. Hier unten roch und schmeckte es nach längst vergangenen Tagen, nach Tereks etlichen Vorgängern, die die Luft hier bereits ein- und wieder ausgeatmet hatten. Ob deren Füße damals ebenso den feinen Sandstaub hier am Boden aufwirbelten? Ob sie dem Knirschen unter ihren Sohlen gelauscht hatten, dem einzigen Geräusch, welches hier unten die eigenen Gedanken übertönte? Terek hatte viele Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen und von denen auch seine restlichen Sinne nicht ablenken konnten. Es waren Stimmen, welche in seinem Kopf zu ihm sprachen.

Sein Berater, der große Malto, flüsterte ihm in der Dunkelheit zu, er solle die beiden nördlichsten Städte, Haasmehor und Rokhejlhor, samt deren Verteidiger für Erkenntnisse über den Feind opfern. Zets Stimme hingegen forderte ihn auf, die gegnerische Armee mit dem Schöpferzorn zu überziehen, als einzige Chance, um im kommenden Krieg zu bestehen. Doch er vernahm noch eine dritte Stimme, die alle anderen überlagerte und die ihn anklagte: „An dem Tag, als du sie das erste Mal in Händen hieltest, hast du mich losgelassen. In der Dunkelheit hast du einen Teil deiner Seele verloren. Zurückgekehrt ist ein, von jeglicher Freude losgesagter, Mann."

Die Stimme gehörte zu M'Kelya.

Terek beschleunigte seinen Gang, um mit den lauter hallenden Schritten das Gerede zu unterbinden. Und tatsächlich wurde bald daraus ein Murmeln und nur wenig später blieb er vor dem großen Tor stehen. Dem Tor, von dem Ezuhak dachte, er könne damit die Geschenke der Mutter und das, was in ihnen schlummerte, für immer wegsperren.

„Ausgerechnet ich werde sie wieder hervorholen", dachte er und musste alle Kraft aufwenden, um die steinernen Flügeltüren aufzustoßen. Nahezu geräuschlos tat sich der Durchgang vor ihm auf. Er hob die Fackel, welche er beiseitegelegt hatte, wieder vom Boden auf und leuchtete in die Schwärze des Raumes hinein. Plötzlich war ihm zumute, als hätte er die Käfigtüren eines wilden Tieres aufgestoßen. Sein Herz schlug so schnell, dass er regelrecht spürte, wie das Blut durch seine Venen gepumpt wurde.

Auch wenn er jeden Moment damit rechnete, angesprungen und von Krallen gepackt zu werden, die sich tief in sein Fleisch bohren würden, geschah nichts. Er durfte sich nicht von der Angst leiten lassen, schärfte er sich wieder ein. Es lauerte hier unten schließlich niemand auf ihn. Die Mutter war immer bei ihm. Sie leitete ihn durch die Wege, die sie ihm aufzeigte.

Es war der Weg der Mutter gewesen, dem er hier gefolgt war und der ihn direkt vor dieses Tor geführt hatte, da war er sich sicher. Er tat das Richtige. Im schwachen Fackelschein kam das graue Tongefäß am Boden zum Vorschein und in ihm loderten, wie Feuer, die drei Splitter, die Geschenke, die Tränen der Mutter.

Er spürte nichts, als er sie aus dem Gefäß zog. Hatte ihn damals eine unbekannte Kraft durchströmt, zumindest empfand er es so, so lagen die Splitter dieses Mal schlicht in seinen Händen und ließen das Feuer der Fackel auf ihrer fast gläsernen Oberfläche tanzen. Sie waren so klein, dass sie nicht einmal seine Handfläche ausfüllten und doch hatten sie einst etwas ins Rollen gebracht, dass nun sein ganzes Volk zu überrollen drohte. Ob Malto oder Zet, sie alle hatten Unrecht. Er würde sich nicht auf ihre Empfehlungen verlassen. Er würde seine eigenen Entscheidungen durchbringen.

Auch heute wieder hätte er für einen kurzen Augenblick schwören können, die Splitter leuchten zu sehen, doch etwas ganz anderes hatte Erleuchtung erfahren. Nämlich Terek selbst.

SchöpferzornWo Geschichten leben. Entdecke jetzt