Kapitel 6

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Marian zögerte nicht und zog, kaum das Ragnar verschwunden war, das Kleid an. Wie sie bemerkte, würde die ausgebesserte Naht an der Seite nicht mehr lange halten und dennoch fühlte sie sich darin deutlich wohler. Sie würde selbst einen Kartoffelsack tragen, um nicht länger Nackt sein zu müssen. Kaum war ihre Frist von zehn Minuten abgelaufen, kehrte Ragnar zurück. Er wirkte tatsächlich ein wenig enttäuscht, als er sah, dass sie gehorcht und sich angekleidet hatte. Doch dann schüttelte er rasch seinen Kopf und holte einen Schlüssel aus einem der beiden Beutel an seinem Gürtel. Damit kam er zu ihr, packte die Kette und zog Marian daran quer über das Bett und näher zu sich heran.
Erschrocken keuchte sie, rang ihre Panik jedoch schnell nieder, als er den Eisenring öffnete. Es war ein gutes Gefühl, von den Fesseln befreit zu sein. Das Metall hatte die Haut an ihrem Knöchel wundgescheuert. Der Atem stockte ihr, als Ragnar mit seinen Fingern erschreckend zärtlich über die geschundenen Stellen streichelte. Ihr Herzschlag gewann deutlich an Tempo. Seine sanften Berührungen verwirrten sie sehr.
Doch dann löste er sich von ihr und ergriff nicht mehr so sanft ihren Arm, ehe er sie aus dem Bett empor zog. Er erklärte ihr, dass sie ihm folgen sollte und ermahnte sie, dass der Versuch zu flüchten ziemlich dumm von ihr wäre. Marian grummelte ihn an und nickte sachte. Dann ließ er sie los und verließ das Gemach. Etwas zögerlich folgte sie ihm.
Kein einziges Mal sah er zu ihr zurück, doch sie ahnte, dass er ihren Schritten lauschte und sie wusste, entfernte sie sich zu sehr, würde er sich sogleich zu ihr umdrehen. Sie mühte sich, ihm auf den Fersen zu bleiben. Als sie die Eingangshalle erreichten, erblickte sie einige Frauen, die dazu befohlen waren, den Boden zu reinigen. Ihre Gesichter waren geschunden und es bewies, dass die Männer in der vergangenen Nacht oft ihre Fäuste benutzt hatten.
Marian hielt entsetzt, inne und schämte sich, da sie während alldem Geschlafen hatte. Sie hatte das Gefühl, ihrem Volk nicht genügend geholfen zu haben. Aber was hätte sie schon ausrichten können? Wie von ihr vermutet, wandte sich Ragnar nun zu ihr herum, da er ihre Schritte nicht mehr hörte. Er folgte ihrem erschrockenen Blick und musterte die Frauen. Was er über die zerschlagenen Gesichter dachte, ließ er sich nicht anmerken. Rasch kam er zu ihr, ergriff ihr Handgelenk und zog sie mit sich.
Ein Schaudern durchfuhr Marian, als er sie zu den unterirdischen Verliesen führte. Sie hatte diesen Ort zuvor noch nie betreten, von dessen Existenz jedoch gewusst. Ihres Wissens nach waren die Zellen bisher unbenutzt geblieben. Nun kauerten die Männer ihres Volkes hinter den Gitterstäben und es roch hier unten fürchterlich. Es gab zwei Wachen, und einer von ihnen reichte Ragnar einen Schlüssel, während beide neugierig zu Marian blickten. Sie fielen in großen Unglauben als Ragnar ihnen erklärte, dass sie die Tochter von Henry sei.
Ragnar ignorierte die beiden jedoch schnell wieder und zog Marian mit sich den langen Kerkergang entlang. Bei jeder Zelle, warf sie einen Blick durch die Gitterstäbe. Sie sah viele bekannte Gesichter und nur wenige von den Männern schienen bei Bewusstsein zu sein. Dann entdeckte sie Adrian, der eine klaffende Wunde an seiner linken Wange hatte, aber ansonsten unverletzt wirkte. Als er sie sah, stürzte er aufgebracht an die Gitter.
"Wenn ihr unserer Lady was tut, werde ich euch Kastrieren", brüllte er und Ragnar blieb so ruckartig stehen, dass Marian ihm in den Rücken lief. Grummelnd rieb sie sich ihre nun schmerzende Nase, während Ragnar einen spöttischen Blick zu Adrian warf.
"Dafür müsstest du erstmal aus dieser Zelle kommen", sagte er und Adrian knirschte wütend mit seinen Zähnen, ehe er seine Herrin prüfend musterte. Als er ihre Füße erblickte, die ohne Schuhwerk und geschunden waren, begann er wütend an den Gittern zu rütteln und Ragnar zu verfluchen. Dieser ignorierte ihn und zog Marian weiter. Das Verhalten des Mannes hatten ihm bewiesen, dass es keinerlei Zweifel mehr gab und die schöne Frau, die ihm hinterher stolperte wirklich Marian war. Das war besser als er es sich jemals zu Hoffen gewagt hatte und dennoch war er etwas verwirrt.
Er hatte es schon öfters mit den Damen aus gutem Hause zu tun gehabt, nicht selten waren sie dabei die Opfer von Plünderungen, die er mit seinem Clan begangen hatte. Er fand, dass Marian überhaupt nicht mit ihnen zu vergleichen war. Er erinnerte sich daran, wie pikiert die Damen waren, wenn man ihnen ihren wertvollen Schmuck raubte. Marian schienen ihre Wertsachen jedoch egal zu sein. Sie war noch dazu nicht von diesen nervigen Parfümwolken umgeben, die andere Damen an sich hatten. Außerdem schien Marian das Wohl ihrer Mitmenschen nicht egal zu sein, wie er anhand ihres Blickes kurz zuvor in der Eingangshalle vermutete. Die anderen Damen hatten, um ihren wertvollen Schmuck zu retten, sogar ihre Dienerschaft als Sklaven angeboten. Henry hatte seine Tochter wohl gut erzogen und auch wenn sich Ragnar sicher war, dass er sie mit Luxus überhäuft hatte, war aus ihr keine verwöhnte Göre geworden. Zumindest machte sie nicht den Anschein, eine zu sein. Er fand sogar, dass sie sehr mutig war.
In ihrem Blick lag stets die Furcht und dennoch ließ sie sich nicht alles gefallen. Er grinste, als er daran dachte, wie sie vor versammelter Mannschaft alle als ehrlose Schweine benannt hatte und inzwischen war ihm auch zu Ohren gekommen, dass sie mit einem Messer auf Halvdan losgegangen war. Eines war sicher, er sollte diese Frau nicht unterschätzen.
Ragnar konnte nicht umhin, sich zu fragen, was in ihrem Kopf vor sich ging und wie sie bisher gelebt hatte. War sie eine der Damen, die oft auf diese versnobten Bälle ging? Saß sie wie viele andere oft stundenlang herum und nähte, oder traf sich mit anderen Ladys und tratschte? Er ermahnte sich, dass ihm dies nicht zu interessieren hatte. Sie war nun eine Gefangene und gehörte ihm. Doch er musste Verwirrt feststellen, dass er alles über sie wissen wollte. Eisern schüttelte er diese Gedanken von sich, als sie die Zelle von Henry erreichten. Rasch schloss er diese auf und schubste Marian hinein.
"Wollt ihr mich etwa einsperren?", fragte sie und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ragnar erkannte, dass die Vorstellung in einer finsteren Zelle ihr Dasein zu fristen, sie sehr ängstigte und er wollte ihr diese Furcht nehmen. Jedoch schreckte Henry, der in einer finsteren Ecke der Zelle kauerte, bei dem Klang ihrer Stimme auf und sie wurde seiner Gewahr. Ragnar fluchte, als sie ihm sogleich kräftig in die Hand biss, er sie losließ und sie mit einem Aufschrei zu ihrem Vater eilte. Henry stöhnte vor Schmerz, als sie sich gegen ihn drängte und ihn in eine innige Umarmung schloss. Ragnar beobachtete, wie Henry sie sanft tätschelte und musterte, ehe er dann voller Hass zu ihm sah. Einerseits schien der Alte froh zu sein, seine Tochter zu sehen, andererseits schien er nun jedoch erkannt zu haben, dass ihr Hiersein bedeutete, dass sie enttarnt war. Er knurrte Ragnar an wie ein wildes Tier und legte beschützend einen Arm um seine Tochter. Ragnar ignorierte dessen Gebären und blickte stattdessen auf seine Hand nieder, wo deutlich die Abdrücke von Marians Zähnen zu sehen waren.
Die kleine war ein richtiges Biest!
Ragnar grinste, ehe er zu den beiden lief und es mit Leichtigkeit schaffte, Henry seine Tochter zu entreißen. Der Alte war so geschwächt, dass er sich nicht einmal erheben und nur zusehen konnte. Die Atmung von Marian ging rasend schnell, während sie versuchte sich von Ragnar zu befreien, doch sein Arm, der um ihre Hüfte geschlungen war, erschien ihr eine unüberwindbare Fessel zu sein.
"Wagt es nicht, ihr irgendetwas zu tun", zischte Henry.
"Was ich mit ihr mache oder nicht, hat euch nicht zu interessieren", erwiderte Ragnar, holte eine zusammengefaltete Landkarte von Greenhill hervor und warf sie dem Alten hin.
"Wenn ihr wollt, dass es ihr gut geht, dann solltet ihr mir Helfen", sagte er und Henry faltete die Karte mit zitternden Händen auseinander. Als er sah, dass das Gebirge seines Landes mit einem Kreis eingezeichnet war, schien er zu begreifen.
"Ihr wollt das Gold", stellte er fest und Marian hielt in ihrem Wehren inne. Ihr verwirrter Blick bewies Ragnar, dass sie von dem Gold keine Ahnung hatte.
"Richtig, deswegen sind wir hier. Markiert die Stellen wo wir suchen müssen und umso schneller gehört euer Land wieder euch", sagte Ragnar und Henry sah ihn prüfend an.
"Ihr würdet mich am Leben lassen und das Land einfach so verlassen?", fragte er. Ragnar nickte, wenn auch er wusste, dass Halvdan anders darüber dachte.
"Ich habe keine Ahnung, von welchem Gold ihr sprecht, aber wenn es so ist, solltest du es tun, Vater", meinte Marian, die es wohl kaum erwarten konnte, dass Ragnar und seine Sippe ihre Heimat wieder verließen. Doch Henry schüttelte verneinend seinen Kopf.
"Das kann ich nicht tun", sagte er.
"Wollt ihr, dass ich eure Tochter vor euren Augen schände?", drohte Ragnar und hörte, wie Marian entsetzt nach Atem rang.
"Natürlich nicht", schrie Henry erbost und seine Finger gruben sich zitternd in die Karte, sodass sie ganz zerknitterte.
"Ihr solltet dieses Gold nicht begehren", warnte er.
"Was wollt ihr damit sagen?", fragte Ragnar.
"Dieses Gold ist verflucht", antwortete Henry und sogleich lachte Ragnar. Er glaubte nicht an Flüche und selbst wenn es sie gäbe, würden sie ihn nicht aufhalten können. Er wusste, er musste wohl noch ein wenig deutlicher werden, um Henry zu überzeugen. Schwer seufzte er, ehe er Marian plötzlich von sich stieß. Sie stolperte nach vorne und fand Halt an dem kalten Gemäuer. Sogleich war Ragnar hinter ihr und drückte ihren Leib fester gegen das Gestein, während er ihr Kleid anhob. Ein Schrei entfuhr ihr und Henry flehte ihn an, aufzuhören.
"Wenn ihr das nicht sehen wollt, wisst ihr, was ihr zu tun habt", drohte Ragnar und zu seiner Erleichterung gab Henry nickend nach. Froh war er, seine Drohung nicht wahrmachen zu müssen, wenn auch diese Position durchaus etwas Erregendes hatte. Rasch ließ er von Marian ab, die zitternd in die Knie sackte.
"Bringt mir passende Utensilien und ich werde euch jene Stellen markieren, von denen ich weiß, dass ihr fündig werdet. Doch wenn ihr dieses Gold holt, last keinen einzigen Klumpen in diesem Land zurück. Der Fluch wird jeden zerstören, der dem Gold zulange ausgesetzt ist", sagte Henry. Ragnar nickte und meinte, dass er bis zum Untergehen der Sonne die Zeit habe, alle Markierungen zu setzten. Dann zog er Marian wieder auf die Beine und verließ mit ihr die Zelle. Sie versuchte alles, um bei ihrem Vater zu bleiben, doch Ragnar schloss die Zelle ab und zog sie rasch davon. Als sie bei den beiden Wachen ankamen, befahl er ihnen, Henry das nötige Schreibwerkzeug zu bringen, ehe er Marian zurück in das Gemach brachte. Sie sagte nichts, als er ihr dort wieder die Fesseln anlegte, doch ihm entging nicht, dass sie Weinte. Er spürte, wie sich sein Herz erweichen wollte, doch er mühte sich eisern, dies nicht zuzulassen.
"Ab Morgen wirst du dich wie alle anderen Frauen im Haushalt nützlich machen", sagte er. Mit einem Schniefen nickte sie und wich seinen Blicken aus. Ragnar eilte sich, das Gemach zu verlassen, bevor er seinem Drang erlag, ihr die Tränen von den Wangen zu wischen.


Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt