Kapitel 62

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Marian kam die Existenz und die Freundschaft von Arokh noch sehr unwirklich vor, doch etwas, tief in ihr drin, wusste, dass der Drache ein Teil ihres Schicksals war. Sie wollte ihn nicht länger fürchten und war bereit alles zu tun, um den Bann zu lösen, der auf ihn und dieser Höhle lag. Tränen brannten in ihren Augen und das Atmen wurde ihr kurz schwer, als sie an Ragnar dachte und sich vorstellte, dass er gefallen war.
"Er ist noch am Leben. Doch sein Schicksal sieht nicht rosig aus, wenn wir uns jetzt nicht an die Arbeit machen", sagte Arokh, so als habe er ihre Gedanken gelesen.
"Woher willst du wissen, dass er noch lebt?", fragte Marian voller Hoffnung.
"Weil ich magisch bin", grollte Arokh ohne eine weitere Erklärung. Marian seufzte und betete, dass er recht hatte. Ihre Augen weiteten sich, als Arokh ihr nun seine Pranke reichte und sie bat, bei ihm aufzusteigen. Marian zögerte nur wenige Augenblicke, ehe sie ihm gehorchte. Als sie ihn berührte, fühlte sie die Wärme, die durch seinen Körper strömte. Er schien aus purer Hitze zu bestehen und dennoch, war es angenehm warm. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie glaubte, seinen Herzschlag spüren zu können. Es war ein enormes Pulsieren, so mächtig, kraftvoll und irgendwie auch sehr beruhigend.
"Aber wie soll ich dich befreien, Arokh?", fragte sie.
"Darum kümmern wir uns gleich", antwortete er und hob seine Pranke empor, sodass Marian auf seinen Kopf klettern konnte. Sie fand einen relativ sicheren Platz auf seiner Stirn und konnte sich gut an seinen dortigen Schuppen festhalten. Als sich Arokh in Bewegung setzte, stockte Marian der Atem. Er grollte und die Flammen in der Höhle erloschen. Trotz der nun herrschenden Finsternis verspürte Marian keine Furcht. Dann, sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, sah sie weit vor sich helles Licht. Marian erkannte, dass sie durch den Tunnel liefen, durch den sie gekommen war und dass das, worauf sie gerade zuliefen, der Ausgang war.
"Arokh um Himmelswillen, wie lange war ich hier?", rief Marian entsetzt als sie begriff, dass bereits ein neuer Tag begonnen hatte.
"Du warst eine Zeitlang Ohnmächtig", brummte er und hielt wenige Meter vor dem Ausgang inne. Marian stieß einen Schrei der Frustration aus. Sie konnte nicht glauben, dass sie so viel wichtige Zeit verschwendet hatte. Ihr Ärger darüber schwand jedoch, als sie sah, wie der Drache voller Sehnsucht zum Ausgang blickte. Das Tageslicht schaffte es nur wenige Meter hinein und er scheute die hellen Stellen. Traurig fragte sich Marian, wann er zuletzt die Sonne gesehen hatte. Sanft streichelte sie über eine seiner Schuppen und ein kaum merkliches grollen aus seiner Kehle, vibrierte bis tief in ihrem Körper nach. Hatte er diese zärtliche Geste gespürt?
"Ich möchte dir die Freiheit schenken, Arokh. Bitte sag mir wie", flüsterte Marian.
"Es ist ganz einfach. Zerstöre den Ring".

Ragnar musste sich eingestehen, dass er von Henry beeindruckt war. Der alte Lord schaffte es, mit seinem Tempo mitzuhalten. Ein paar Mal fiel er zwar etwas zurück, doch im nächsten Moment war er ihm wieder dicht auf den Fersen. Henry gab nicht auf, egal wie sehr die Erschöpfung auch an ihm nagte. Er war zäh, wie sonst was. Nachdem sie das Schlachtfeld verlassen hatten, wurde Ragnar plötzlich von Henry eingeholt, gepackt und zum Stillstand gezwungen.
"Wenn du direkt auf ihn losprescht, wird der Feigling fliehen. Wir werden von hinten kommen. Folge mir", meinte der Alte und rannte davon. Ragnar zögerte kurz, ehe er Henry folgte. Von Halvdan unbemerkt, liefen sie einen großen Bogen und schlichen sich wenige Minuten später von hinten an ihn heran. Es wäre vermutlich einfach gewesen, ihn zu erschlagen. Doch Ragnar wollte das Gesicht dieses Bastards sehen, wenn er ihm das Leben aus dem Leib prügelte. Daher stieß er einen lauten Pfiff aus, als er unmittelbar hinter dem Pferd von Halvdan war. Erschrocken sah letzter nun natürlich hinter sich. Als er Ragnar erkannte, war es bereits zu spät für eine Flucht. Henry fielen fast die Augen aus dem Kopf als er Zeuge wurde, wie Ragnar den Bastard brutal aus dem Sattel riss. Kaum dass Halvdan auf dem Boden aufgeschlagen war, drosch Ragnar bereits in blinder Wut auf ihn ein.

Marian glaubte, sich verhört zu haben. Sie sollte den Ring ihrer Mutter zerstören? Alles in ihr wollte dagegen Protestieren. Instinktiv holte sie das Schmuckstück aus der Tasche und schloss ihn schützend in ihrer Hand ein.
"Warum den Ring?", fragte sie.
"Einst schufen die Hexen einige Ringe, um die Drachen zu kontrollieren. Du musst wissen, dass nicht jeder meiner Art, sich den Hexen verpflichtet sah. Dieser Ring wurde deiner Mutter vererbt, doch sie hatte vermutlich nie gewusst, wofür er eigentlich gedacht war. Als sie den Zauber gegen mich sprach, kam ihr die Macht die in diesem Ring innewohnte, zur Hilfe. Er ist das Siegel, das den Zauber trotz ihres Todes am Leben erhält", erklärte Arokh und Marian schluckte schwer. Ringe, um die Drachen zu knechten? Diese Vorstellung gefiel ihr überhaupt nicht. Nachdenklich sah sie das Schmuckstück in ihrer Hand an. Würde ihn zu zerstören wirklich schon genügen?
"Was passiert, wenn ich es tue? Wirst du unsere Freundschaft mit Füßen treten, wenn keine Magie dich mehr bindet?", fragte Marian und erschrak als Arokh mächtig grollte.
"Willst du meine Treue bereits so früh infrage stellen?", fragte er. Marian schwieg und rang mit ihren Ängsten. Doch am Ende bezwang sie diese, wissend, dass sie nicht zögern durfte. Tief atmete sie ein und aus, während sie den Ring fest umschlossen hielt. Auch wenn er ihr wichtig und ein Erbstück ihrer Familie war, wenn es Arokh die Freiheit und ihre Liebsten retten konnte, würde sie ihn ohne zu zögern zerstören. Alles in ihr, begann sich auf diesen einen Gedanken zu fokussieren.
"Du musst es von ganzem Herzen wollen", grollte Arokh. Marian nickte und spürte beinahe zur gleichen Zeit, wie es in ihrem Körper zu kribbeln begann. Es war, als würde sie innerlich brennen, aber es tat nicht weh. Von diesem Gefühl überwältigt, schloss sie ihre Augen und dachte mit aller Macht an jene, die sie liebte. Dann plötzlich begann der Ring in ihrer Hand zu vibrieren. Davon ganz erschrocken ließ Marian ihn fallen und noch während er fiel, zersplitterte der Stein und Marian konnte spüren, wie eine Welle aus purer Energie, durch die Hölle schwappte.
"Ist der Bann nun gebro ...?", Marian unterbrach ihren Satz mit einem gellenden Schrei, als Arokh laut brüllend auf den Ausgang zustürmte. Eine ganze Schar von Vögeln, die in einem Baum nicht unweit der Höhle nisteten, stoben erschrocken in die Lüfte empor, als Arokh nach draußen rannte und dabei ein nicht gerade kleines Beben verursachte.
"Nein warte, tu das nicht, Arokh Neeeiiinnn", kreischte Marian als er seine Flügel kräftig schlagend ausbreitete und sich in die Lüfte erhob. Immer höher und höher stieg er, sich nach den unendlichen Weiten des Himmels sehnend.

Halvdan spuckte mehrmals Blut, während er versuchte sich gegen Ragnar zu wehren. Dieser ließ ihm aber kaum eine Chance. Zu allen Übel kam kurz darauf noch der Alte Callahan dazu. Halvdan brüllte zornig, als der Mistkerl ihm grinsend in die Rippen trat. Niemals hätte Halvdan damit gerechnet, dass der Feind von hinten kommen könnte und er erkannte schnell, dass seine Lage gerade nicht die beste war. Ein Keuchen entwich ihm, als Ragnar schließlich von ihm abließ.
"Sieh dir nur sein Gesicht an. Also das macht dem Spruch, zu Brei geschlagen, alle Ehre", meinte Henry und schlug sich vor Lachen auf die Oberschenkel. Ragnar brummte etwas Unverständliches, packte Halvdan und zerrte ihn in eine sitzende Position auf.
"Hätte nicht gedacht, dass ihr beide euch zusammen tut", spottete Halvdan und seine Worte waren kaum zu verstehen, da alles an ihm geschwollen zu sein schien.
"Da sieht man mal wieder, dass zu Denken, nicht deine Stärke ist", spottete Ragnar und packte ihn an der Kehle. Erschrocken versuchte Halvdan nach Luft zu ringen, doch der starke Griff um seinen Hals machte dies kaum möglich. Ein Schaudern durchfuhr seinen Körper als Ragnar näher kam.
"Ich habe deinen Vater getötet. An den Händen aufgespießt, habe ich ihm die Kehle aufgeschlitzt", flüsterte Ragnar ihm dicht an seinem Ohr zu. Halvdan war kurz vor entsetzen wie gelähmt, ehe er sich aus dem griff wand und sein lauter Wutschrei bis in weite Ferne hallte. Doch bevor er seinen Zorn an Ragnar auslassen konnte, wich dieser ein paar Meter zurück und zog sein Schwert.
"Komm und kämpfe, ich werde dich jämmerlich verlieren lassen", meinte Ragnar.
"Was soll der Mist? Erschlagen wir ihn einfach", fuhr Henry ihn an.
"Halt dich da raus, das hier ist mein Kampf", erwiderte Ragnar. Henry wollte etwas erwidern, doch als sich Halvdan keuchend und mehrmals Blut spuckend erhob, winkte er grummelnd ab und wich etwas abseits zurück. Mit vor der Brust verschränkten Armen sah er dabei zu, wie Halvdan sein Schwert zog und sich Ragnar entgegenstellen.
"Keine Tricks, sonst misch ich mit", rief Henry, doch die beiden Männer ignorierten ihn und gingen Hasserfüllt aufeinander los.

Die Augen fest geschlossen, spürte Marian wie der Wind ohne erbarmen an ihr zerrte. Ihre Finger klammerten sich mit aller Kraft an den fugen der Schuppen fest. Zum Schreien fehlte ihr bereits die Stimme und sie betete einfach nur, dass dieser grauenhafte Flug endlich ein Ende finden würde. Arokh genoss seine Freiheit in vollen Zügen und vermutlich war es das erste Mal seit Jahren, dass er wieder fliegen konnte. Bei diesem Gedanken kamen ihr fast die Tränen. Dann, sie wusste nicht, wie lange sie geflogen waren und wie oft sich ihr Magen umgestülpt hatte, wurde der Flug plötzlich deutlich ruhiger und sie hörte das Rauschen des Meeres, begleitet von dem Kreischen der Möwen. Vorsichtig und am ganzen Leibe zitternd schlug sie ihre Augen auf. Arokh schwebte gerade dicht über dem Meer und sie wurden von unzähligen Möwen begleitet. Erschrocken und auch erstaunt, sah sich Marian um. Die Furcht griff nach ihrem Herzen als sie sah, dass sie ihre Heimat hinter sich ließen. Brach Arokh sein Versprechen? Wo flog er hin? Wie konnte sie ihn zur Umkehr bewegen?
"Tut mir leid Marian, ich hatte mich vor Freude nicht mehr unter Kontrolle", grollte Arokh, ehe er einen weiten Bogen über das herrliche Blau flog und wieder ihre Heimat ansteuerte. Erleichtert atmete Marian aus, ehe sie sanft über seine Schuppen streichelte.
"Schon gut, ich verstehe dich aber bitte, lass uns nun keine Zeit mehr vergeuden", bat sie.
"Du hast recht. Das Schicksal ruft. Nun sieh und staune Marian", grollte Arokh und mit mächtigen Schlägen seiner gewaltigen Schwingen, näherten sie sich rasend schnell ihrem Ziel.


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