Kapitel 8

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Marian blickte noch lange zu der Stelle, wo Ragnar entschwunden war. Ihre Lippen bebten und ihr Herz raste wild dahin. Sie tat sich schwer, mit der Erkenntnis, dass ihr der Kuss gefallen hatte.
"Das darf nicht sein, nein, das sollte ich schnell wieder vergessen", murmelte sie und schlug sich gegen ihre glühenden Wangen. Nichts, was mit ihm zu tun hatte, durfte ihr gefallen. Sie ermahnte sich immer wieder und wedelte sich mit der flachen Hand frische Luft zu. Es war erschreckend, wie warm ihr war. Als es ihr endlich gelang, sich zu beruhigen und den Kuss aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, suchte sie die Küche auf. Dort waren einige der älteren Frauen dabei, die Vorratskammern zu prüfen.
Wie sie ihr berichteten, würde das, was sonst mehrere Wochen hielt, schon in wenigen Tagen verbraucht sein. Das war nicht verwunderlich, denn die Männer ließen sich die Tische sehr verschwenderisch eindecken und das meiste landete am Ende doch bei den Schweinen. Es gab keine Bauern mehr auf den Feldern und keine Fischer mehr auf dem Meer. Auch, gab es keine Jäger mehr um das Wild zu schießen. Die beiden Clans würden bald keine andere Wahl haben als sich dieser Aufgaben anzunehmen.
Nachdem sie den Älteren ein wenig Mut zugesprochen hatte, verließ sie die Küche. Als sie kurz darauf den Thronsaal betrat, war sie froh zu sehen, dass hier keine Männer waren. Liane und einige andere Frauen waren gerade dabei, den Saal zu reinigen. Das war auch nötig, denn die Männer hatten einen Saustall hinterlassen. Marian seufzte schwer, ehe sie sich zu ihrer Zofe gesellte. Diese musterte sofort ihre Beinfesseln und Marian erkannte, dass sie die einzige war, die solche Ketten trug.
"Viele der Männer sind am frühen Morgen zu den Schiffen gegangen. Die jenen, die hier blieben, lassen uns zum Glück in Ruhe", erklärte Liane. Marian war froh dies zu hören, denn es tat allen gut, keine prügelnden und um sich brüllenden Männer in der Nähe zu haben. Doch als Liane berichtete, dass sie durch Gespräche zwischen den Männern erfahren hatte, dass die Kinder ebenfalls bei den Schiffen seien, musste sie schwer schlucken. Was würde mit den Kindern passieren? Sie betete, dass es ihnen gut ging und sie bald wieder zu ihren Müttern durften. Erschrocken zuckte sie im nächsten Moment zusammen, als irgendwo eine Tür barst. Liane erklärte ihr, dass einige Männer die Festung durchsuchten und der Lärm wohl davon kam. Marian war sich sicher, dass ihr Gemach bereits auf den Kopf gestellt worden war. Könnte sie es riskieren, in ihre privaten Gemächer zu gehen? Es könnte nicht Schaden, sich dort ein neues Kleid zu besorgen und einen kurzen Blick unter die lose Diele zu werfen.
"Bevor ich es vergesse, Rawena sucht dich. Soweit ich weiß, ist sie gerade mit einigen anderen am Fluss und wäscht die Wäsche", meinte Liane. Marian beschloss ihrem Gemach ein andres Mal aufzusuchen und ging. Etwas nervös verließ sie kurz darauf die Festung und zu ihrem Staunen hielt keiner sie auf.
Sie konnte in der Ferne die Frauen beim Fluss erspähen und sie schienen unbewacht zu sein. Nicht weit von ihr waren einige Männer, die ihre Waffen schärften. Einige von ihnen übten den Schwertkampf. Keiner von ihnen würdige Marian oder den anderen Frauen einen Blick. Rasch, so schnell die Ketten es erlaubten, eilte sie zum Fluss. Die Frauen dort freuten sich ihre Herrin zu sehen und einige Tränen liefen. Marian schenkte ihnen ein Lächeln. Nachdem sie sich sicher war, dass es allen den Umständen entsprechend gut ging, fragte sie sogleich, warum keine von ihnen die Chance nutzte und Floh.
Es wäre ein leichtes sich in die Wälder zu schleichen und dort im Schutze der Bäume das Weite zu suchen. Sie erfuhr, dass es in der ersten Nacht einige Flüchtige gegeben hatte, diese inzwischen aber eingefangen und ausgepeitscht worden waren. Man sei sich sicher, dass sich die Männer an eine Flucht erfreuen würden. Denn sie hatten sichtlichen Spaß daran bewiesen, ihre Opfer über das Land zu jagen. Nun fehlte natürlich jedem der Mut, eine Flucht selbst zu riskieren. Marian war froh zu hören, dass die Frauen nicht aufgeben wollten.
Sie legten ihre Hoffnungen in Huxley und waren sich sicher, dass er sie bald retten würde. Natürlich teilte Marian dies, hatte jedoch ihre Bedenken. Sie konnten sich nicht sicher sein, dass der Bote ihn erreicht hatte. Ohne ihn könnten Wochen oder gar Monate vergehen, bis Huxley begreifen würde, dass etwas nicht stimme. Marian dachte an die Worte von Ragnar. Er wäre bereit, das Land ohne weitere Morde zu verlassen, wenn er das Gold hatte. Doch wie hoch waren die Chancen, dass er seine Worte mit Lügen strafte?
Sie stufte es als sehr hoch ein und vermied es daher, den Frauen davon zu erzählen. Sie kapselte sich von den Gesprächen ab und suchte nach Rawena. Die Ältere war im ganzen Land als Heilerin bekannt und sie schien jedes Kraut und deren Wirkung zu kennen. Ihr rechtes Auge war milchig weiß und ihr Haar so düster wie die Nacht. Die ältere genoss das Vertrauen von Marian und ihrem Vater. Letzterer zog ihre Meinung oft dem eines richtigen Arztes vor und bisher hatte er dies nie bereuen müssen. Marian entdeckte die Gesuchte und gesellte sich rasch zu ihr.
"Schön, euch einigermaßen wohlauf zu sehen", sagte Rawena. Marian erwiderte dies.
"Ich hörte, du hast nach mir gesucht?".
"Das habe ich. Ich wollte euch fragen, ob ihr mich Morgen begleiten wollt".
"Wohin?".
"In die Kerker, um den Gefangenen ein wenig Medizin zu geben", antwortete Rawena.
"Das würde ich sehr gerne, doch ich fürchte, man wird es uns nicht erlauben".
"Ich habe die Erlaubnis bereits", erwiderte Rawena und Marian sah sie überrascht an. Durfte sie wirklich die Wunden ihres Vaters und der anderen behandeln?
"Ich muss gestehen, der Clan der Thorvaldsson, hat es mit Verboten. Doch ich wollte nicht Aufgeben und habe schnell erkannt, dass der Ragan Clan etwas zugänglicher ist. Ich sprach mit dem Anführer und zu meinem eigenen Erstaunen gab er sein Einverständnis", erklärte die Ältere und Marian jauchzte vor Freude. Ragnar war gefährlich und ein Teufel, doch er schien nicht so kaltherzig wie dieser Halvdan.
"Wenn das so ist, begleite ich dich gerne", sagte Marian und konnte es kaum erwarten, sich persönlich um die Wunden ihres Vaters zu kümmern.

Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt