Kapitel 16

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Es graute gerade zum Morgen, als Lucian das Zimmer von Ivar, in dem sich Ragnar niedergelassen hatte, betrat. Der Herr der Ragan nahm keine Notiz von ihm und lief unruhig im Raum auf und ab. Ragnar wusste, dass seine Lage nicht gut war und es nur eine Frage der Zeit sei, bis Halvdan zurückkehrte und die Schwäche von ihm erkannte. Doch es war nicht das, was ihn im Moment mit Sorge erfüllte. Seine Gedanken drehten sich um Marian und er ahnte, was mit ihr geschehen würde, wenn er gezwungen war, dieses Land zu verlassen. Wie konnte er sie vor Halvdan und seinem Gesindel schützen, wenn unzählige Seemeilen sie voneinander trennten? Er wusste, es gab nur eine Lösung für dieses Problem. Entschlossen hielt er inne, als er seinen rothaarigen Freund bemerkte.
"Das wird ihr nicht gefallen", meinte Lucian, nachdem Ragnar ihm mitgeteilt hatte, dass er eine Änderung in den von ihnen erdachten Fluchtplan hatte.
"Das ist mir egal, wenn wir dieses Land verlassen müssen, tue, worum ich dich gebeten habe", erwiderte Ragnar mit einem raschen Abwinken.
"Das werde ich", versicherte Lucian ihm und ging. Nachdem Ragnar alleine war, begann er erneut, im Zimmer auf und ab zu laufen. Von Anfang an war er von Marian wie berauscht gewesen. Das Verlangen, sie beschützen zu wollen, war beinahe übermächtig. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich eingeredet, dass es alleine ihre Schönheit war, die ihn so sehr fesselte. Doch seit jenem Augenblick, als sie sich zwischen ihn und den Wolf gestellt hatte, wurde ihm allmählich bewusst, was seine Gefühle zu bedeuten hatten. Er wurde von etwas gepeinigt, von dem er gedacht hatte, dass es ihn niemals treffen würde. Mit einem schweren Seufzen hielt er inne und begann seinen Verband, gut unter dem Ärmel seines Hemdes zu verstecken. Dann verließ er den Raum und machte sich auf den Weg zu jener Frau, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte. Als er das Gemach von Henry kurz darauf betrat, fand er Marian schlafend im Bett vor. Langsam näherte er sich und betrachtete sie. Ihr Mund war leicht geöffnet und sie atmete schwer. Auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Eine Strähne ihres Haares hatte sich in ihrem Gesicht verfangen und er streifte ihr diese hinter das Ohr. Als er sie dabei jedoch unweigerlich berührte, erschrak er. Marian glühte, ihre Haut fühlte sich an, als würde sie in Flammen stehen. Schnell begriff er, dass sie fieberte. Große Sorgen erfüllten ihn und seine Versuche, sie zu wecken, scheiterten. Mit einem verzweifelten Fluch eilte er in den Flur hinaus, wo er nach Ivar rief. Wie immer, verweilte dieser in seiner unmittelbaren Nähe und war sofort zur Stelle. Ragnar befahl ihm, sofort nach Rawena zu suchen und diese zu ihm zu schicken. Es dauerte nur einige Minuten, bis er den Befehl erfolgreich ausführte und die alte Heilerin kam. Als sie ihre Herrin entdeckte und ihren Zustand erkannte, war ihr die Sorge in das Gesicht geschrieben. Doch sie zögerte nicht und machte sich daran, Marian zu helfen. Ragnar blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die Kenntnisse der Alten das Fieber zum Sinken brachten.

Die Stunden zogen dahin, doch der Zustand von Marian wollte sich nicht bessern. Zum späten Nachmittag erkannte Rawena, dass ihr nur noch das Arnikakraut helfen konnte. Doch das Bündel, das Marian und Ragnar aus dem Wald mitgebracht hatten, war bereits für den Herrn und die anderen Gefangenen verbraucht. Rawena wusste, dass sie so schnell wie möglich Neues besorgen musste, doch sie war sich nicht sicher, ob Ragnar ihr helfen würde. Prüfend spähte sie zu ihm. Er hatte das Gemach in den letzten Stunden nicht verlassen und verfolgte jede Handlung von ihr mit Argusaugen. Er schien sich sehr um Marian zu sorgen, doch waren seine Gebärden echt oder nur eine Farce? Rawena war sich da nicht so sicher, doch sie hatte keine andere Wahl. Entschlossen erklärte sie ihm die Situation und bat um Hilfe. Zu ihrem Erstaunen zögerte er keine Sekunde und schickte sofort einige Männer in die Wälder, um das benötigte Kraut zu besorgen. Zum Dank bat sie ihn, sich zu setzen, damit sie seine Wunde begutachten konnte. Er gehorchte ihr und sie löste den Verband. Nichts deutete auf eine Infektion hin, aber da die Wunde noch frisch war, wäre es zu früh, um eine Entwarnung zu geben. Sorgfältig trug sie eine ihrer Pasten auf und begann, den Arm wieder zu verbinden. Rawena war fest entschlossen, ihn bei seiner Heilung zu unterstützen. Sie wollte keinen der beiden Clans in ihren Ländern. Doch wenn sie zwischen ihnen wählen musste, war sie bereit, den Ragans ihre Hilfe angedeihen zu lassen.

Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt