Kapitel 11

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Als Marian erwachte, wagte sie es zunächst nicht, ihre Lider zu heben. Sie fühlte sich nicht dazu bereit, sich Ragnar zu stellen. Nachdem er von ihr abgelassen hatte, war sie tatsächlich verärgert gewesen. Doch inzwischen war sie froh. Lange hatte sie gebraucht, bis sie endlich Schlaf gefunden hatte. Ihre Stirn runzelte sich, als sie die Weichheit des Bettes spürte. Sie fluchte leise. Ihr war klar, dass er sie, kaum das sie im Tiefschlaf gewesen war, von ihrer Schlafstätte am Boden ins Bett gebracht haben musste. Sie schnaufte, ehe sie ihre Lider hob und sich umsah. Ragnar war zu ihrer Erleichterung nicht da. Durch das Fenster schien Tageslicht herein. Rasch richtete sie sich auf und wollte nach den anderen Frauen sehen. Die vergangene Nacht war immerhin lang gewesen. Ihre Füße hatten jedoch kaum den Boden berührt, als sie wieder innehielt. Mit großen Augen sah sie auf ihre Knöchel nieder.
Sie trug keine Fesseln mehr und ihre geschundene Haut war eindeutig gereinigt und dem Geruch nach, mit einer Salbe behandelt worden. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ihr war klar, dass dies nur Ragnar gewesen sein konnte. Sein Handeln verwirrte sie sehr und sie wurde aus diesem Mann einfach nicht schlau.
Warum hatte er überhaupt so eine erschreckende Wirkung auf sie? Sie wollte ihn so sehr hassen, doch immer weniger schien sie dazu in der Lage zu sein. Was stimmt denn mit ihr nicht? Rasch schüttelte sie ihren Kopf und erhob sich. Glücklich darüber, nicht mehr von Fesseln behindert zu werden, lief sie zur Tür und wollte sie öffnen. Doch es ging nicht.
"Er hat doch nicht etwa ...", stockte sie und rüttelte wie eine Irre an der Tür. Nichts tat sich. Die Wut entfachte sich in ihr und sie begann heftig zu fluchen. Vor lauter Zorn trat sie gegen die Tür und jammerte sogleich auf vor Schmerz. Sichtlich genervt musste sie akzeptieren, nun im Gemach eingesperrt zu sein.
"Da waren mir die Fesseln lieber", grummelte sie und lief zum Fenster. Wie sie mit einem Blick hinaus feststellte, war der Morgen wohl schon lange vorüber. Auf dem Vorplatz vor der Festung tummelten sich unzählige Männer und rüsteten die Pferde. Marian entdeckte ihre Stute unter den Tieren. Vor einigen Jahren hatte sie das Tier geschenkt bekommen und sie hatte es geliebt, mit ihr über die weiten Graslanden zu reiten. Doch nun hatte sich einer der Männer die Stute zu eigen gemacht und er ging nicht gerade zimperlich mit ihr um. Marian ärgerte sich, dies zu sehen. Sie konnte nur hoffen, dass Riva wohlbehalten zurückkehrte und sie das Tier eines Tages wieder mit der Liebe überschütten konnte, die es verdient hatte. Schweren Herzens löste sie ihren Blick von Riva und sah sich weiter um. Alles deutete darauf hin, als würde die Erkundung der Berge schon heute beginnen. Das hob ihre Laune etwas, besonders als sie sah, dass Halvdan unter den Männern war. Sie grinste, als sie sein geschwollenes Gesicht sah. Erst als die Männer in Scharen davonritten, löste sie sich vom Fenster und fragte sich, wie viele wohl in der Festung verblieben waren. War Ragnar auch gegangen? Bei der Vorstellung verspürte sie eine tosende Unruhe. Doch kurz darauf legte sich diese, als die Tür entriegelt wurde und Ragnar eintrat. Sogleich errötete sie unter seinen eindringlichen Blicken. Etwas in ihr wollte ihm entgegenfliegen, aber sie konnte es nicht lassen, ihm vorzuwerfen, dass sein Anblick sie mit Verachtung erfüllte. Er grinste etwas, während er mit seinen Schultern zuckte.
"Wie du siehst, bist du von den Fesseln erlöst. Gebe mir keinen Grund, dies zu bereuen, oder du wirst sie schneller wieder tragen, als dir lieb ist", warnte er und sie nickte.
"Die anderen Frauen sind schon bei der Arbeit, geh und helfe ihnen", sagte er und dies ließ sie sich nicht zweimal sagen. So schnell, dass er kaum gucken konnte, war sie an ihm vorbeigehuscht und verschwunden.

Wie sich herausstellte, war die Festung beinahe wie leergefegt. Die herrschende Ruhe war fast schon unheimlich. Der Großteil der Männer, die sie erblickte, gehörten dem Ragan Clan an. Das nahm ihr ein wenig ihre Sorgen. Diese Männer waren nicht ganz so schrecklich wie Halvdan und sein Gesindel. Sie schlugen nicht ohne Grund zu und bisher schien sich auch keiner von ihnen an den Frauen vergangen zu haben. Marian schüttelte rasch den Kopf, als sie bemerkte, dass sie versuchte, den Ragan Clan gut zu reden. Doch wie sie kurz darauf feststellte, schienen viele der Frauen ihre Meinung zu teilen und den Ragan Clan als deutlich angenehmer zu erachten.
Nachdem Marian dabei geholfen hatte, die Sauerei zu beseitigen, die im Thronsaal herrschte, machte sie sich auf die Suche nach Rawena. Sie fand die Ältere in der Küche, wo sie ihr stolz die fertigen Salben präsentierte.
"Ich habe die ganze Nacht daran gesessen", sagte sie und Marian freute sich.
"Nun seid ihr an der Reihe", meinte Rawena.
"Wie meinst du das?".
"Geht und fragt Ragnar, ob ihr in die Verliese dürft".
"Wieso soll ich ihn fragen?", rief Marian sofort.
"Weil ich nun ein wenig Schlaf brauche", erwiderte Rawena und nachdem sie die Salben gut in den Schränken versteckt hatte, lief sie davon. Grummelnd sah Marian ihr nach. Sie war sich nicht sicher, ob Ragnar ihr dies erlauben würde. Er würde vermutlich denken, dass sie nur zu ihrem Vater wollte. Schwer seufzte sie, ehe sie sich auf die Suche nach ihm machte. Sie durfte nicht zögern. Die Verletzten brauchten die Medizin so schnell wie möglich. Doch selbst, nachdem sie gefühlt die ganze Festung abgesucht hatte, blieb er unauffindbar. Von Ivar, den sie mit einigem Zögern nach dessen Verbleib gefragt hatte, erfuhr sie, dass er wohl zum Fluss gegangen sei. Sogleich machte sich Marian auf den Weg und überlegte, wie sie ihre Frage am besten formulieren sollte.
Doch als sie den Fluss erreichte, vergaß sie sogleich, warum sie überhaupt gekommen war. Ragnar stand mitten im Fluss und wusch sich - NACKT. Ragnar vernahm ihr entsetztes Keuchen und sah sofort auf. Seine Mundwinkel zuckten, als er ihre großen Augen sah. Mit offenem Mund starrte sie ihn an und erst als sie realisierte, dass er sie entdeckt hatte, wirbelte sie aufgeschreckt herum. Selbst von hinten konnte er ahnen, wie sehr ihre Wangen nun glühten.
"Willst du mit mir Baden?", fragte er.
"Niemals".
"Bist du dir sicher?".
"Nur über meine Leiche", rief sie und er lachte.
"Was führt dich dann zu mir?", wollte er wissen.
"Ich, ähm, ich habe eine Frage", sagte sie mit zitternder Stimme.
"Willst du, dass ich dich wieder küsse?".
"Nein".
"Bist du dir sicher?", fragte er und hörte, wie sie ihn leise murmelnd verfluchte. Es erstaunte ihn immer wieder, was für ein loses Mundwerk diese Lady hatte.
"Ich wollte um Erlaubnis bitten, mit Rawena in die Verliese zu gehen. Ich weiß, ihr habt es ihr bereits erlaubt, aber während eurer Abwesenheit hat Halvdan es verboten", sagte sie und das so schnell, dass er einen kurzen Moment brauchte, um ihre Worte zu verstehen. Er erinnerte sich an die alte Heilerin mit einem blinden Auge. Er sah keinen Grund darin, seine Erlaubnis nicht erneut zu geben. Er hatte nichts davon, wenn die Kerker sich mit Leichen füllten und er wusste nie, wann er die Gefangenen noch brauchen könnte. Jedoch würde er Marian diese Erlaubnis nicht einfach so hinwerfen, sie würde schon etwas dafür tun müssen. Nichts lieber hätte er getan, als sie auszuziehen und mit ihr zu baden, doch er sah einige Männer in der Nähe, denen er den Anblick ihres herrlichen Körpers nicht gönnen wollte.
"Was bist du bereit, für diese Erlaubnis zu tun?", fragte er.
"Ich soll etwas dafür tun?", fragte sie entsetzt.
"Nichts im Leben ist umsonst", erwiderte er und sah, wie sie ihre Hände zu Fäusten ballte.
"Was wollt ihr denn?", fragte sie und knirschte hörbar mit den Zähnen.
"Es geht nicht um das, was ich will, sondern was du bereit bist zu geben", antwortete er und im nächsten Moment echote ein lautes Hundegebell durch die Luft. Der Schrei von Marian war vermutlich meilenweit zu hören, als sie zwei riesige Wolfshunde erblickte, die direkt auf den Fluss zu rannten. Ragnar lachte schallend, als sie die Flucht ergriff und in die Festung stürmte, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her. Nur wenige Augenblicke später wurde er von Tamir und Temos, seinen treuen Hunden, angesprungen und von den Füßen geworfen. Schwanzwedelnd schleckten sie ihn ab.

Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt