Kapitel 50

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Dunkelheit beherrschte das Land und dennoch trieb Marian den Wallach immer weiter voran. Zu groß war ihre Furcht, dass Halvdan sie finden könnte. Ihre Flucht war, auch für sie, sehr überraschend gekommen und sie würde Havati auf ewig dankbar sein. Nachdem sie die Kontrolle über den Wallach erlangt hatte, war sie sofort dazu entschlossen gewesen, den langen Ritt zu Lord Huxley auf sich zu nehmen. Ein anderer Ort fiel ihr nicht ein und sie hoffte, dass sie ihn davon überzeugen konnte, ihrem Mann zu helfen.
Denn Ragnar würde ohne Zweifel kommen, die Frage war nur wann!

Der neue Morgen kam und Ashildr ging den Frauen in der großen Küche zur Hand. Doch eine wirkliche Hilfe war sie ihnen nicht, denn ihre Gedanken hingen bei Marian.
Erleichterung hatte sie und auch die anderen Frauen übermannt, als sie am gestrigen Abend einen wütenden Halvdan gesehen und erfahren hatten, dass Marian geflohen war.
Sie alle hofften, dass sie und ihr Kind nun in Sicherheit waren.
"Wo glaubt ihr, wird Marian nun sein?", fragte Ashildr eine der Frauen.
"Es gibt nur einen Ort, der ihr Sicherheit verspricht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich zu Lord Huxley durchschlagen wird", antwortete ihr die junge Frau, von der sie wusste, dass sie Liane hieß.
"Wer ist das?", fragte Ashildr und noch immer war sie überwältigt, mit welcher Güte die Frauen sie in ihrer Reihe aufgenommen hatten, obwohl sie eine Ragan war. Liane erklärte ihr, dass Lord Huxley mit den Callahans befreundet sei und das sein Land, jenseits der Berge lag. Bevor Ashildr weitere Fragen stellen konnte, flog die Tür im hohen Bogen auf und Havati trat ein.
Ashildr knurrte ihn sofort an. Sie verachtete diesen Verräter sehr.
"Da bist du ja, ich hab dich schon gesucht", rief er und wirkte ganz außer Atem. Man sah ihm an, dass er die ganze Nacht lang kein Auge zu getan hatte.
"Was willst du von mir?", fragte sie.
"Wir müssen ganz dringend reden", antwortete er und ihre Augen wurden groß, als er sich einen Weidenkorb schnappte, der neben ihm auf dem Tisch stand, dann ihre Hand ergriff und sie aus der Küche zog. Dass sie sich dagegen sträubte, mit ihm zu gehen, missachtete er. Als sie die Festung verließen, reichte er ihr den Korb und blieb stehen, um sich ihrem Ohr zu nähern.
"Falls irgendjemand fragt, ich begleite euch in den Wald, um Pilze zu sammeln", flüsterte er und noch während sie ihn verwirrt anblinzelte, schubste er sie voraus. Ashildr stolperte, fing sich jedoch und lief weiter, da er ihr dicht auf den Fersen war. Die meisten Krieger, die vor der Festung hausten, würdigten ihr keines Blickes. Sah doch mal einer auf, dachte er sich bei dem Anblick des Weidenkorbs nichts dabei, als die beiden auf den Wald zusteuerten. Das Herz von Ashildr schlug ihr bis zum Halse und sie fragte sich, was Havati wollte. Würde er sie in den tiefen des Waldes ermorden? Wollte er sich vielleicht sogar an ihr vergehen?
"Weißt du, wohin Marian nach ihrer Flucht gegangen sein könnte?", fragte Havati.
"Selbst wenn, würde ich es einem dreckigen Verräter wie dir, niemals sagen", antwortete sie fauchend.
"Das kann ich durchaus verstehen", murmelte er und sie drangen immer tiefer in den Wald ein.
"Aber du musst wissen, er ist ziemlich außer sich. In der letzten Nacht habe ich so viel Furcht verspürt, wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Mir schlottern jetzt noch die Knie. Sein Wutanfall war das schlimmste, was ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Daher würde ich dir raten, wenn du etwas weißt, dann solltest du es ihm sagen", meinte Havati und blieb stehen. In dem Glauben, dass er Halvdan meinte, hielt sie ebenfalls inne und drehte sich zu ihm.
"Ich werde Marian nicht verraten", zischte sie und erschrak, als sie schwere Schritte hörte, die sich näherten und dicht hinter ihr innehielten.
"Das ehrt dich sehr. Dennoch, solltest du es ihm sagen", meinte Havati, der grinsend an ihr vorbeiblickte. Fürchtend, dass hinter ihr niemand anderes als Halvdan stand, wirbelte sie Kampfbereit herum und erkannte mit einem erfreuten Aufschrei ihren Fehler.
Es war Ragnar.

Die nächsten drei Tage waren für Marian eine Tortur. Sie und der Wallach rasteten nur selten und beide befanden sich am Rande einer tiefen Erschöpfung. Manchmal musste sie das Tier mit roher Gewalt zum Weiterlaufen zwingen, während auch sie immer öfters ihre eigene Beine beanspruchte, da sie kaum mehr in der Lage war, sich aufrecht auf dem Pferd zu halten.
Sie kamen nur erschreckend langsam voran und ihre Reise durch das Gebirge war nicht gerade leicht. Der Hunger plagte Marian, sowie der Durst und es fröstelte ihr sehr. Doch dann, am frühen Morgen des vierten Tages, betrat sie das Land von Lord Huxley.
Bereits aus der Ferne, konnte sie seine gewaltige Burg erblicken und die Tränen kamen ihr, als sie erkannte, dass sie es geschafft hatte. Wie sie mit erstaunten Augen sah, hatten sich vor seiner Festung hunderte von Soldaten versammelt und mit wild schlagendem Herzen fragte sie sich, ob sie kurz davor waren, in ihre Heimat zu ziehen. Die letzten Kilometer bis zu ihrem Ziel waren die reinste Folter für sie.
Irgendwann von ihr selbst unbemerkt hatte sie die Zügel des Wallachs losgelassen und stolperte ohne ihn weiter voran. Dann, als die ersten Soldaten sie erblickten, konnte sie nicht mehr. Vor den Augen vieler brach sie zusammen und blieb regungslos am Boden liegen.

Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt