Kapitel 42

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Marian schwebte auf Wolken und nichts konnte ihre Glücksgefühle zerstören. Lächelnd streichelte sie den Hals von Schnee, während sie das Tier durch die Straßen der Stadt führte. Marian wusste nicht, wohin sie zuerst blicken sollte. Es gab unglaublich viel zu sehen und besonders der Markt erweckte ihr Interesse. Sie nahm Gerüche wahr, die ihr fremd waren und sah speisen, die sie nicht kannte.
Gerne hätte sie sich den Ständen genähert, doch die Menschenmenge hielt sie davon ab. Ihr Auftauchen sorgte für sehr viel Aufsehen und alle verrenkten sich die Hälse nach ihr. Sicher war sie sich, dass die Menschen sich ihr neugierig genähert hätten, wenn Ragnar nicht gewesen wäre, der mit seinem Hengst neben ihr ritt. Sein Anwesenheit sorgte dafür, dass ihnen alle den Weg frei machten und ein respektabler Abstand eingehalten wurde.
"Du solltest dich ihnen in Zukunft öfters zeigen, dann wird sich die Aufruhr bald legen. Wenn es so weit ist, können wir gemeinsam über den Markt spazieren", meinte Fjorleif, die ihnen auf einer braunen Stute folgte. Marian nickte und konnte es kaum erwarten. Sie versuchte sich alles ganz genau einzuprägen und schenkte den Menschen ein freundliches Lächeln. Es steigerte ihre gute Laune, dass dieses erwidert wurde.
Als der späte Mittag hereinbrach, beendeten sie den Stadtbesuch und Marian fühlte sich von den ganzen neuen Eindrücken ziemlich erschöpft. Zurück bei der Burg wartete jedoch ein stärkendes Essen auf sie. Danach begann ihre Laune zu sinken, den Ragnar musste sie verlassen, da die Oberhäupter der anderen Clans mit ihm sprechen wollten. Schwer seufzte sie und versuchte nicht daran zu denken, dass sie vermutlich über Greenhill und den bevorstehenden Krieg sprachen. Zu ihrem Glück hatte sie Fjorleif, die ihr weiterhin Gesellschaft leistete.
Die ältere überreichte ihr einen goldenen Schlüssel.
"Damit hast du zutritt zu unseren Schatzkammern. Alles, was sich darin befindet, gehört nun auch dir", erklärte Fjorleif und Marian wollte sofort einen Blick in die besagten Kammern werfen. So kam es, dass die beiden Frauen die Treppe hinabgingen, die zu jenem Ort führten, der Marian bisher verwehrt gewesen war.
Die Stufen führten in ein unterirdisches verließ, dass mehrere Gänge und massive Türen hatte. Im linken Gang befanden sich die Kammern mit den Waffen und Marian sah hier viele todbringende Dinge. Nicht nur Schwerter und Äxte, sondern auch Bögen. Es gab passende Pfeile dazu, grobe, aber auch sehr kunstvolle.
Ein kurzer Blick auf diese Waffen genügte ihr und sie erforschte den Gang nicht weiter. Stattdessen folgte sie Fjorleif in den mittleren Gang. Dort befanden sich die Zellen für die Gefangenen. Marian bekam ein beklemmendes Gefühl und musste an die eingesperrten Männer ihres Landes denken, die vermutlich nicht mehr lebten. Daher machten sie auch hier rasch wieder kehrt und betraten den rechten Gang. Die vielen Türen dort konnten nur mit dem Schlüssel geöffnet werden. Was Marian in diesen Räumen zu sehen bekam, raubte ihr den Atem. Sie waren mit Schätzen gefüllt. Es gab nicht nur Gold und Juwelen, sondern auch wertvolle Kunst, die im Handel gewiss ein Vermögen einbringen würde. Es schien kein Ende zu nehmen und es ließ sie ein wenig schwindeln, als ihr klar wurde, welcher Reichtum in diesen Kammern lag. Fjorleif gestand ihr, dass die meisten Sachen bei Plünderungen erbeutet wurden. Oft fuhren die Ragan in die See hinaus, um dort andere Schiffe zu kapern. Manchmal aber waren es auch andere Städte und Dörfer, die sie beraubten. So wie es in Marians Landen geschehen war. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, aber ihr war klar, dass sie dieses Verhalten der Ragan nicht würde ändern können.
Sie waren ein starkes Volk, die sich nahmen, was sie wollten. Doch auch in ihnen hauste ein gutes Herz, wie sie inzwischen wusste. Marian wollte dieses Volk mit aller Macht beschützen und lieben, auch, wenn sie nicht immer bereit sein würde, zu akzeptieren, was sie taten.

In den nächsten Tagen ließ sich Marian oft in der Stadt blicken, wobei Fjorleif sie stets begleitete. Meistens wachte Lucian oder Ivar über die beiden Frauen, da Ragnar mal wieder ziemlich mit den anderen Clans beschäftigt war.
Das Volk freute sich stets, sie zu sehen und mit der Zeit begann sich die Aufruhr um sie zu legen. Dies nutzte Marian, um mit Fjorleif über den Markt zu schlendern. Sie probierte viele neue Gerichte aus und lernte neue Gewürze kennen.
Gut eine Woche, nach ihrer Hochzeit mit Ragnar, wurde Marian in die Haupthalle gerufen. Sie war überrascht dort eine Handvoll an Männern zu sehen und Lucian.
"Das Volk hat einige bitten und da Ragnar ziemlich beschäftigt ist, liegt es nun an dir, diese zu erfüllen, zu verweigern oder was auch immer", erklärte Lucian und grinste, als er sah, dass sie von seinen Worten sichtlich Nervös wurde.
"Keine Sorge, ich bin bei dir", versicherte er zwinkernd und als sie sich zitternd in ihren Sitz niederließ, stellte er sich neben ihr auf, stets eine Hand auf seinem Schwertgriff liegend. Wie sie bemerkte, taten es ihm die anderen Männer in der Halle gleich.
"Ist das denn nötig?", fragte sie.
"Die Burg ist für alle geöffnet, wenn Bittsteller erlaubt sind. Man kann also nie wissen, wer diese Tür durchschreitet. Sicher ist sicher", antwortete er und sie schluckte schwer. Konnte es sein, dass es außer Eydis noch andere gab, denen sie ein Dorn im Auge war?
Kurz darauf betraten die ersten beiden Bittsteller die Halle. Die beiden Männer, die wohl dem Dorf am Strand angehörten, waren ziemlich zerstritten. Sie waren beide Fischer und einer von ihnen hatte einen monströsen Fang gemacht, der sehr viel Ruhm einbrachte. Doch jeweils beide behaupteten, der glückliche zu sein. Da sie den Streit nicht klären konnten, waren sie gekommen, um das Oberhaupt entscheiden zu lassen.
In diesem Fall lag es an Marian.
Sie überlegte hin und her, nicht wissend, welche Antwort nun die richtige wäre. Was hätte Ragnar getan? Sie wusste es nicht und die einzige Lösung, die ihr einfiel, war, dass sich die Männer die Beute und den Ruhm teilen mussten.
Aber damit würde sie auch den Lügner belohnen. Dennoch blieb ihr keine andere Wahl, wenn sie die Sache friedlich lösen wollte und weil sie nicht wusste, wer die Wahrheit sprach. Das Lächeln von Lucian bewies ihr, dass sie trotz allem eine gute Entscheidung getroffen hatte. Ohne zu Murren nahmen die Männer das Urteil hin und gingen. Marian war froh, dass es so Glattgelaufen war.
Die nächsten waren zwei Frauen, die sich ebenfalls zerstritten hatten. Es ging um einen Mann. Jede von ihnen war der Meinung, dass er ihr gehöre. Lucian prustete amüsiert los als Marian sagte, dass dies die Entscheidung des Mannes wäre und er keiner von ihnen gehören würde, wenn er es nicht wollte.
Eine ganze Stunde lang, verbrachte Marian damit, Streit zu schlichten, Güter gerecht aufzuteilen und sogar damit, Babys einen Namen zu geben. Am Ende war sie völlig fertig mit ihren Nerven. Sie konnte kaum glauben, mit welchem Unsinn die Menschen teilweise zu ihr gekommen waren. Doch Lucian versicherte ihr, dass sie sich gut geschlagen hatte und das hob etwas ihre Stimmung.

Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt