Kapitel 21

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Einige Tage waren vergangen, seit Marian aus der Kajüte von Ragnar geflohen und sich ihrer Liebe zu ihm bewusst geworden war. Es schockierte sie so sehr, dass sie ihren Raum nicht mehr verlassen konnte und verzweifelt versuchte diese Gefühle aus ihrem Herzen zu verbannen. Es brach ihr das Herz, ihren Sehnsüchten nicht nachgeben zu dürfen. Doch sie wusste, sollte ihr Vater noch leben und davon erfahren, würde er sie verstoßen. Rawena und die anderen würden sie eine Verräterin nennen. Allein diese Vorstellung war grausam. Doch nicht nur wegen der Furcht verachtet zu werden, wollte sie sich ihrer Liebe verweigern. Marian befürchtete, dass Ragnar sie nur benutzen und irgendwann entsorgen würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihre Gefühle teilte. Vermutlich wollte er sie nur deshalb zur Frau machen, weil er irgendeinen Plan verfolgte. Doch so zu denken, half nicht dabei, ihre Gefühle zu mildern. Sie war sich der Tatsache bewusst, dass sie Ragnar nicht für immer aus dem Weg gehen konnte. Im Moment war ihre Kajüte ein sicherer Ort, er gestattete ihr diese Zuflucht und behelligte sie nicht. Doch wie lange würde dies so bleiben? An einem frühen Morgen mehr als drei Wochen nachdem sie ihre Heimat verlassen hatte, erwachte Marian, weil die beiden Hunde fiepend durch ihre Kajüte liefen. Sie erhob sich und öffnete ihnen die Tür. Sogleich rannten die beiden davon und verschwanden auf dem Deck, von dort nahm Marian auch die aufgeregten Stimmen der Männer wahr. Was war los? Sie zögerte eine Weile, ehe sie all ihren Mut zusammensammelte und ihre Kajüte verließ. Als sie das Deck betrat, ignorierte sie die dortigen Männer, denn sie wurde sich sofort dem Land gewahr, dem sich das Schiff unaufhaltsam näherte. Furcht ergriff sie, denn sie ahnte, dies war die Heimat von Ragnar. Sie näherten sich einem weitläufigen Strand, hinter dem sich ein dichter Wald erhob. Hölzerne Stege führten vom Strand aus einige Meter in das Meer hinein. Ein paar Schiffe waren dort festgemacht. Kleine sowie auch große. Nahe dem Wald lag ein kleines Dorf und die dortigen Häuser unterschieden sich stark in Form und Bauweisen. Einige waren aus Holz mit einem einfachen Strohdach, andere aus festem Gestein und sehr massiv. Marian lief zur Reling, um einen besseren Blick erhaschen zu können. Sie sah Frauen und Kinder, aber auch Männer, die schwer bewaffnet und eindeutig Krieger waren. Sie alle eilten zum Strand und winkten dem nahendem Schiff zu. Marian fragte sich mit bangem Gefühl, wie diese Menschen auf sie reagieren werden. Am liebsten wäre sie wieder in ihre Kajüte geflohen. Doch ihr war bewusst, dass nun der Moment gekommen war, wo sie sich nicht mehr verstecken konnte. Das Schiff fuhr einen der Stege an und dicke Seile wurden ausgeworfen. Einige Männer an Land machten diese fest. Dann wurde eine große Ladeklappe ausgefahren, die mit einem lauten Krachen auf dem Steg aufschlug. Marian wurde Zeuge, wie die Männer vom Schiff eilten und sich von der Menge in Empfang nehmen ließen. Stolze Eltern umarmten ihre Söhne, Kinder ihre Väter und Frauen ihre Männer. Auch Tamir und Temos stürmten vom Schiff und verschwanden mit lautem Gebell im Dorf. Marian sah sich indessen suchend nach Ragnar um und als sie ihn entdeckte, beschleunigte sich ihr Puls. Er war seinen Männern gefolgt und wurde am Strand von allen Seiten umringt. Viele klopfen ihm auf die Schultern und andere redeten mit strahlenden Gesichtern auf ihn ein. Da waren auch einige Kinder, die ihm energisch an den Hosenbeinen zogen und um Aufmerksamkeit bettelten. Er wurde von seinem Volk geliebt, das war nicht zu übersehen. Es war ein freudiges Wiedersehen und die Heimkehrer wurden in die Richtung des Dorfes gedrängt. Dies war der Moment, in dem sich Marian bewusst wurde, dass man sie scheinbar vergessen hatte. Allein blieb sie auf dem Schiff zurück. Nach einigem Zögern betrat sie das ihr fremde Land und beschloss diese Chance zu nutzen. Sie hoffte, dass sie sich irgendwo in den unbekannten Weiten vor Ragnar verstecken konnte. Wild entschlossen drehte sie dem Dorf ihren Rücken zu und wollte losrennen. Doch sie sah sich nun mehreren Kriegern gegenüber, die ihr den Weg versperrten. Der Atem stockte ihr, als sie in die finsteren Gesichter blickte. Die Männer musterten sie von oben bis unten.
"Sieht so aus als hat Ragnar uns was zum Spielen mitgebracht", meinte einer der Männer. Sein Bart war so lang, dass man seinen Hals nicht erkennen konnte. Marian war vor Angst wie gelähmt und geriet in Panik als die Männer sie von allen Seiten umringten. Sie kamen ihr so nahe, dass sie deren Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Beinahe zeitgleich griffen die Männer nach ihr und sofort entbrannte unter ihnen ein Streit darüber, wer sie zuerst haben durfte. Marian wurde von einem zum anderen gezogen. Schnell wurde ihr ganz schwindelig und in ihrer Furcht tat sie das einzige, was ihr instinktiv in den Sinn kam. Sie rief laut und verzweifelt nach Ragnar. Sogleich war ein mächtiger Fluch, gefolgt von einem düsteren Knurren, zu hören. Kurz darauf wurden einige Männer von ihr fortgerissen. Jemand legte einen Arm um ihre Hüfte und sie wurde mit dem Rücken voran an eine harte Brust gezogen. Ihre Augen weiteten sich, als eine Faust von hinten an ihr vorbeisauste und den Bärtigen, der direkt vor ihr stand, mitten in das Gesicht traf. Keuchend ließ er sie los und taumelte zurück. Das Blut schoss ihm wortwörtlich aus der Nase. Marian war sich sogar sicher, das Knacken seiner Knochen gehört zu haben. Als Marian erkannte, dass es Ragnar war, der sie hielt, drehte sie sich in seinen Arm herum, um sich zitternd gegen ihn zu schmiegen. Es war ihr egal, dass sie ihn eigentlich hatte meiden wollen. Sie wurde sich bewusst, dass sie in diesem fremden Land nur bei ihm sicher war. Als sie verstohlen zu ihm empor sah, erschauderte sie. Sein Blick war mörderisch. Seine Mimik, wie in Stein gemeißelt. Er sah aus, als wollte er die Männer zu Schweinefutter verarbeiten.
"Auch wenn ich euch gerne kastrieren, halbieren und zu Brei verarbeiten würde, werde ich dieses eine Mal ein Nachsehen mit euch haben, weil ihr nicht wusstet, wer sie ist. Doch lasst euch eines gesagt sein, fasst ihr diese Frau noch einmal an, breche ich euch alle Knochen und lasse euch elendig verrecken. Das Weib gehört mit, sie wird meine Frau werden", sagte Ragnar mit finsterer Stimme. Die Männer wurden Kreidebleich. Marian erschrak, als überraschte Ausrufe über den Strand hallten. Die Dorfbewohner, die Zeuge des gesagten geworden waren, schienen zu eskalieren. In Windeseile erfuhren auch jene, die abseits gestanden hatten, dass die Fremde die Ehefrau ihres Oberhauptes werden sollte. Schlagartig wurde Marian zum Mittelpunkt des ganzen Dorfes. Alle kamen herbei, um einen Blick auf sie zu werfen. Aufgeschreckt versuchte Marian ihr Gesicht an der Brust von Ragnar zu verstecken, da die Menge sie nun umzingelten. Erleichtert war sie, als Ragnar alle aus dem Weg scheuchte, sie an die Hand nahm und fortführte. Sie liefen einem grinsenden Lucian entgegen, der am Hauptplatz des Dorfes auf die beiden wartete.
"Sieh dir nur diese Gesichter an, dass du heiratest, hättest du ihnen schonender beibringen sollen", meinte Lucian als sie ihn erreichten. Ragnar grummelte etwas, das Marian nicht verstehen konnte.
"Dass du jemals heiraten würdest, hat keiner von denen erwartet. Deine Liebhaberinnen werden schockiert sein", sagte Lucian als er dem immer noch grummelnden Ragnar und der entsetzten Marian folgte. Dass er Frauen hatte, mit denen er sein Bett wärmte, hätte sich Marian denken können, dennoch spürte sie einen Stich in ihrem Herzen.
"Halt deine verdammte Fresse", zischte Ragnar als der rothaarige munter weiter redete und Marian immer mehr Details erfuhr, die sie lieber nicht hören wollte. Die Ragan hatten sich wohl damit abgefunden, dass ihr Oberhaupt niemals ein Eheweib haben würde. Da er bekannt dafür war, sich nie lange genug für eine Frau zu interessieren. Kein Wunder also, dass die Botschaft er würde Heiraten, für so viel Aufsehen gesorgt hatte. Seine Mutter, so erzählte Lucian, sei schon am Verzweifeln, weil sie fürchtete, ihr Sohn würde nie ein anständiges Eheweib haben, die ihm einen strammen Erben schenkte.
"Halt deine verdammte Fresse", zischte Ragnar erneut, doch der Rothaarige schien seinen Spaß damit zu haben, ihn zu reizen und den Ausdruck des Entsetzens auf Marians Gesicht zu verstärken. Erst als Ragnar einen wirklich tödlichen Blick in die Richtung seines Freundes schickte, begann dieser sich in Schweigen zu hüllen. Sie erreichten schließlich das letzte Haus, das direkt am Waldesrand stand. Dort warteten ein paar junge Knaben, die ihnen Pferde vorbereitet hatten. Ragnar nahm die Zügel eines braunen Hengstes an sich und warf dann einen Blick zurück. Marian tat es ihm gleich. Nur Lucian, Ivar und Halvar folgten ihnen. Die anderen Krieger hatten sich im Dorf verteilt und man hatte wohl beschlossen, Marian nicht mehr zu verfolgen. Allerdings konnte man sehen, wie sich einige Dorfbewohner fast die Köpfe verengten, um doch noch einen Blick zu erhaschen. Ragnar bestieg den Hengst und hob Marian mit seiner gesunden Linken zu sich empor. Dann lenkte er das Tier in den dichten Wald hinein. Lucian und die anderen beiden folgten ihnen ebenfalls zu Pferde. Marian spürte, wie es umgeben von den hohen Bäumen deutlich kühler wurde. Fröstelnd sah sie sich um und versuchte sich alles ganz genau einzuprägen. Das Feindesland zu kennen war immerhin sehr wichtig, denn dies könnte ihr eines Tages eine Hilfe sein. Sie wusste nicht, wie lange sie durch den Wald ritten, aber er schien gefühlt kein Ende zu nehmen. Doch dann endlich lichteten sich die Bäume und was Marian nun sah, raubte ihr den Atem. Ein langer breiter Pfad führte viele Kilometer weit durch ein prächtiges Tal. Zu seiner rechten konnte sie viele erntereife Felder erspähen und Weiden, auf denen verschiedenes Getier graste. Zu seiner linken gab es unzählige Häuser, sie formten eine Stadt, in der es vor Menschen nur so wimmelte. Marian war schockiert. Am Strand hatte sie lächerlicher weise noch geglaubt, das kleine Dorf wäre alles. Wie sie jetzt sah, waren die Ragan sehr vielzählig und ihr wurde bewusst, dass nicht einmal Huxley mit seiner ganzen Armee dieses Land einnehmen könnte. Jetzt konnte sie verstehen, weshalb Halvdan die Macht von Ragnar gefürchtet hatte. Mit den Ragan war nicht gut Kirschen essen. Mit diesem Gedanken ignorierte sie die Menschen, die den Reitern aus der Ferne entgegen winkten und fokussierte sich auf die Burg, die sich am Ende des Pfades befand. Es war ein gewaltiges Ungetüm mit mehreren Türmen. Als sie den großen Vorplatz der Festung erreichten, eilten ihnen einige schwerbewaffnete Krieger entgegen. Ragnar stieg vom Pferd und begrüßte seine Männer. Nur kurz kam Marian der Gedanke, dass sie die Zügel ergreifen und mit dem Pferd fliehen könnte. Doch schnell wurde dieser Plan verworfen, denn es war sicherer bei Ragnar zu bleiben. Zumindest fürs Erste. Außerdem stellte sich heraus, dass er sie diesmal nicht aus den Augen ließ. Als einer der Krieger ihrem Pferd zu nahe kam und sie neugierig betrachtete, wurde er nämlich böse von Ragnar angeknurrt. Bevor Marian sich versah, hob Ragnar sie vom Pferd und fesselte sie mit einem Arm an seine Seite. Die Krieger stellten keine Fragen, erkannten aber, dass Marian ein Tabu war. Während sich Ragnar anhörte, was es in seinem Land für Neuigkeiten gab, blickte Marian zur Burg empor. Die Türme waren erschreckend hoch und die Festung ihres Vaters war ein Witz dagegen. Ragnar winkte nun eine Frau herbei, die sich genau wie Marian wohl in ihren Zwanzigern befand. Er sagte ihr etwas, was in dem Gerede der umstehenden Männer völlig unterging, aber sie schien ihn verstanden zu haben. Marian verkrampfte sich, als Ragnar sich von ihr löste und ihr zu verstehen gab, der Frau zu folgen. Verunsichert tat sie dies und wurde in die Burg geführt. Dort war alles ziemlich rustikal gehalten. Während ihr Vater gerne mit kostbarem Wandschmuck geprahlt hatte, hingen hier Felle von Tieren an den Wänden. Auch alte, zum Teil schon ganz rostige Waffen. Es war nicht nach ihrem Geschmack, doch sie hatte sowieso nicht vor sich hier irgendwie heimisch fühlen zu wollen.
"Ich bin übrigens Ashildr", sagte die Frau, der sie nun eine große Treppe hinauf folgte. Marian nickte nur und hatte nicht die Lust sich ebenfalls vorzustellen. Dass sie dadurch unfreundlich wirkte, war ihr egal. Doch Ashildr schien ihr dies nicht übelzunehmen, sie schenkte ihr sogar ein sanftes Lächeln. Marian war etwas irritiert davon. Die Treppe führte in einen dunklen und verwinkelten Gang. Es gab unzählige Türen und eine davon öffnete Ashildr. Als Marian ihr folgte und den Raum dahinter betrat, ließ sie ihren Blick mit großen Staunen schweifen. Sie fand sich in einem farbenfrohen Paradies wieder. Der Boden war mit weichen Teppichen bedeckt, deren Muster beinahe schwindelerregend waren. In den Ecken standen Töpfe mit den buntesten Blumen, die Marian jemals gesehen hatte. In der Mitte des Raumes waren mehrere Kissen so drapiert worden, dass sie eine gemütliche Sitzecke boten. Zu beiden Seiten gab es Türen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die eine war aus rustikalem Holz, die andere weiß bestrichen und offenbar per Hand bemalt. Niemals hätte Marian damit gerechnet, in dieser Burg auf solch eine Behausung zu treffen. Auf einem kleinen Tisch in einer Schale lagen dünne Stäbe, deren Enden glühten und die empor steigenden Rauchschwaden hüllten den Raum in einen ungewohnten, aber angenehmen Duft. Schließlich entdeckte Marian eine Frau, die mit dem Rücken zu ihr an einem der beiden großen Fenstern stand. Ashildr trat an die Frau heran und flüsterte ihr etwas zu. Doch es gab keine Reaktion. Mit einem leisen Seufzen kam Ashildr wieder zu Marian und führte sie zu der Tür aus rustikalem Holz.
"Das sind die privaten Räume von Ragnar und nun auch die deine", sagte sie und öffnete die Tür. Marian brauchte einen kurzen Augenblick, um das Gesagte zu verdauen. Doch dann trat sie ein und sah sich prüfend um. Der Raum war riesig. Marian entdeckte ein großes Bett mit unzähligen Decken darauf. Daneben standen zwei hölzerne, schlichte Beistelltische. Es gab mehrere Truhen, die vermutlich mit den Habseligkeiten von Ragnar gefüllt waren. Da war auch ein großer Schrank und ein, wie Marian erschrocken sah, Regal voller Schwerter und Äxte. Der Raum passte zu Ragnar, aber wenn er dachte, dass sie hier mit ihm schlafen würde, hatte er sich geirrt. Ashildr führte sie zurück in den bunten Wohnraum und zeigte auf die Frau, die noch immer stumm am Fenster stand.
"Das ist Fjorleif, sie wird mit dir und Ragnar zusammen hier leben", erklärte Ashildr und Marian erstarrte vor Schreck. Wer genau war, diese Frau, dass sie mit Ragnar einen Wohnraum teilte? War sie eine seiner Liebhaberinnen, eine ganz besondere sogar? Blankes Entsetzen ergriff Marian und schmerzhafte Stiche durchbohrten ihr Herz.




Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt