Kapitel 24

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Was habe ich getan? - dachte Marian als sie sich von Ragnar über den Burgplatz führen ließ. Die Sache zwischen ihr und Fjorleif war fürchterlich eskaliert. Im Nachhinein wusste Marian nicht einmal mehr, wie das hatte geschehen können. Vor lauter Wut hatte sie nicht mehr klar denken können. Doch nun war ihre Sorge groß, dass Ragnar sie bestrafen würde. Als er stehenblieb, hatte sie keine andere Wahl als es ihm gleichzutun. Sie sah zu seiner Hand, die ihre umschloss. Es war erschreckend zu erkennen, wie groß seine im Gegensatz zu der ihren war. Dennoch wollte sie nicht, dass er sie losließ. Leider tat er es und drehte sich zu ihr herum. Nervös sah sie zu ihm empor und erkannte verwundert, wie seine Mundwinkel zuckten. Sie hatte seinen Zorn erwartet, aber nicht das er belustigt war. Ihre Wangen röteten sich, als er dichter an sie herantrat und mit einer Hand durch ihr Haar fuhr, das vom Kampf ganz zerzaust war.
"Du bist die Erste, die es wagt, sich mit meiner Mutter anzulegen", sagte er.
"Es tut mir leid", nuschelte sie.
"Das muss es nicht", erwiderte er und schmunzelte.
"Ich sollte mich lieber davor hüten, meine Zukünftige zu provozieren", sagte er dann.
"Ich würde mich nicht mit dir Raufen", sagte sie erschrocken, wissend, dass sie gegen ihn sowieso keine Chance haben würde.
"Aber mit einem Messer auf mich losgehen", erwiderte er und beide dachten an den Vorfall zurück. Marian fragte sich, was mit dem juwelenbesetzten Dolch geschehen war. Hatte Ragnar ihn noch in seinem Besitz?
"Ich bin schändlich gescheitert", murmelte sie.
"Und du würdest es jederzeit wieder versuchen?", fragte er.
"Ja", antwortete sie ohne nachzudenken und schnell bereute sie es. Natürlich würde sie dies nicht tun wollen. Sie liebte ihn und sie würde versuchen ihm zu entkommen, ohne ihm dabei Schaden zu müssen. Doch ihr Mund war mal wieder schneller gewesen als ihr Kopf. Es tat ihr leid, denn das Lächeln von Ragnar schwand. Er hatte sich eine andere Antwort erhofft. Dennoch schien er ihr nicht Böse zu sein. Doch die Enttäuschung war spürbar.
"Wie auch immer. Ich habe ein Geschenk für dich", sagte er und lief auf einen recht jungen Burschen zu, der zwei Pferde hielt. Marian folgte ihm und musterte die beiden Tiere. Das linke Pferd war ein wunderschöner schwarzer Hengst. Das rechte eine Stute, die wie der Schnee war. So strahlend weiß, dass es einen fast blendete. Ragnar nahm die Pferde an sich und schickte den Burschen hinfort, ehe er Marian die Zügel der Stute reichte.
"Sie gehört von nun an dir", sagte er. Marian klappte die Kinnlade hinab. Er schenkte ihr ein solch schönes Pferd? Sicherlich war die Stute ein Vermögen wert! Sie wagte es kaum, die Zügel an sich zu nehmen. Tat es am Ende aber doch. Sie wollte sich bedanken, wusste aber nicht wie.
"Wenn du magst, werden wir etwas Ausreiten", schlug Ragnar vor. Sie nickte. Zwar fürchtete sie dieses Land, doch solange er bei ihr war, fühlte sie sich sicher. Noch dazu konnte sie es kaum erwarten, die Geschwindigkeit der Stute zu testen.
"Wie Lucian mir berichtete, bist du eine gute Reiterin. Er meinte, du wärst schneller als der Wind geritten", sagte Ragnar und sie fragte sich, wann Lucian sie hatte reiten sehen. Dann fiel ihr jedoch ihre Flucht wieder ein.
"Er hat es übertrieben, niemand kann schneller als der Wind sein", meinte sie. Ragnar sagte dazu nichts und wandte sich seinem Hengst zu. Marian sammelte all ihren Mut zusammen, machte einige Schritte auf ihn zu und zupfte Verlegen an seinem Hemdärmel. Fragend sah er zu ihr. Wie er bemerkte, sah sie beschämt zu Boden.
"Ich muss dir etwas sagen", flüsterte sie.
"Willst du doch nicht ausreiten?".
"Das ist es nicht", meinte sie und sah verstohlen zu ihm empor.
"Ich habe nicht vor, es noch einmal zu tun", sagte sie dann hastig und ihr ganzes Gesicht glühte.
"Was genau meinst du?".
"Dich mit einem Dolch anzugreifen", sagte sie und wurde Zeuge, wie sich ein wunderschönes Lächeln auf seine Lippen stahl. Erleichtert war sie, es ihm gesagt zu haben. Es hatte ihr keine Ruhe gelassen. Doch die Art und Weise wie er sie nun ansah, machte sie Kirre.
"Und danke für dieses Geschenk", stammelte sie, wirbelte rasch herum und zog sich geschwind in den Sattel ihres Pferdes. Bevor Ragnar sich versah, galoppierte sie mit der Stute in einem unglaublichen Tempo davon.

In einem atemberaubenden Tempo nahm Ragnar die Verfolgung auf. Im ersten Moment glaubte er, Marian versuchte ihm zu entfliehen. Doch schnell wurde ihm klar, dass sie lediglich die Grenzen ihrer Stute austestete. Lucian hatte nicht gelogen, sie wusste, wie sie mit einem Pferd umzugehen hatte. Dennoch wurde er panisch als er sah, wie sie die Stute über einen dicken Stamm springen ließ, der ihr den Weg versperrte. Sie schien einen Sturz nicht zu fürchten, er jedoch schon. Doch sie meisterten den Sprung mit Bravour. Beide Harmonierten und das bewies ihm, dass er sich das richtige Tier ausgesucht hatte. Eine Zeit lang blieb er ihr auf den Fersen und ließ ihr die Freiheit, ihren Weg selbst zu wählen. Doch als sie sich schließlich immer mehr der Grenze zum Feindesland näherte, gab er seinem Hengst die Sporen und holte sie ein.
"Ab hier geht es nicht mehr weiter", sagte er.
"Warum, bist du wütend, dass ich besser Reite als du?", neckte sie.
"Von wegen. Wir können gerne austesten, wer besser ist, aber nicht weiter in diese Richtung", sagte er und Marian blickte in die Ferne. Sie hatten oberhalb eines kleinen Hügels haltgemacht und vor ihnen erstreckte sich dichtes Grasland. In einigen Kilometern Entfernung begann ein dichter Wald.
"An der Waldgrenze beginnt das Gebiet der Thorvaldsson", erklärte Ragnar. Marian erschrak.
"Warum seid ihr gemeinsam in mein Land eingefallen, obwohl ihr euch so verhasst seid?", fragte sie nach einigem Zögern.
"Eine lange Geschichte", wehrte Ragnar ab.
"Ich würde sie gerne hören", sagte sie.
"Ein andern Mal", wehrte er ab und sie gab sich damit zufrieden. Ragnar lächelte, als er Marian musterte. Der wilde Ritt hatte ihr Haar nur noch mehr zerzaust und ihre Wangen waren von dem Wind gerötet, - oder war er der Grund?
"Wo hast du das Reiten gelernt?", fragte er.
"Von Adrian".
"Wer ist das?".
"Einer der Soldaten, die du hast einsperren lassen", sagte sie und sein Blick verfinsterte sich.
"Erstens, hätte ich dies nicht getan, wären sie bereits Tod. Zweitens, in welcher Verbindung standest du zu ihm?", fragte er.
"Er ist ein Soldat meines Vaters".
"Das ist alles?".
"Ja, was soll denn sonst noch sein?", fragte sie. Ragnar schwieg. Dass er eifersüchtig auf diesen Adrian war, wollte er ihr nicht gestehen. Sicherlich war dieser Kerl mehr als nur ein einfacher Soldat und die Vorstellung, dass die beiden sich näher gekommen sein könnten, erweckte in ihm einige Mordgelüste. Würde er das Herz von Marian für sich gewinnen können, oder gehörte es schon jemand anderem? Diese Ungewissheit nagte an ihm.
"Reiten wir zurück, es wird bald Dunkeln", sagte er.

Als Marian den Wohnraum betrat, war von Fjorleif weit und breit nichts zu sehen. Das Chaos war jedoch beseitigt worden. Ihr Glaube, für den Rest des Abends ihre Ruhe zu haben, wurde von Ragnar, der ihr gefolgt war, zerstört.
"Heute Abend solltest du dich beim Essen blicken lassen", sagte er. Sie fluchte innerlich, damit war ihre Schonzeit wohl offiziell vorbei. Nachdem sie sich etwas erfrischt hatte, folgte sie Ragnar wieder nach unten. Ihr Herz trommelte wie verrückt in ihrer Brust. Wie würde das Essen mit den anderen Verlaufen? Sie betraten einen großen Saal, dort standen einige Tische, die reich gedeckt waren. Alle Plätze waren belegt. Sie sah Frauen und mehrere Krieger. Sie vermutete, dass es sich hierbei um die Vertrauten der obersten Familie handelte. An einem Tisch, der so stand, dass man von dort den ganzen Saal im Blick hatte, saß Fjorleif. Sie würdige Marian keines Blicks als diese mit Ragnar näher kam. Zur rechten von Fjorleif waren zwei Plätze frei. Ragnar ließ sich neben seiner Mutter nieder und Marian wurde sich bewusst, dass sie an seine andere Seite gehörte. Etwas zögerlich ließ sie sich dort nieder. Dies war der Moment, wo alle zu Essen begannen. Nur Marian nicht. Sie war ziemlich nervös. Erst als sie zu Ashildr sah, die neben ihr saß und ihr freundlich zulächelte, begann sie sich zu entspannen. Langsam begann Marian zu Essen und ließ ihren Blick dabei durch den Saal schweifen. Es war nicht so schlimm, wie sie gedacht hatte. Alle waren ziemlich gut gelaunt. Es wurde viel geredet, doch in dem ganzen Stimmenwirrwarr konnte Marian nicht wirklich etwas verstehen. Nicht selten flogen neugierige Blicke zu ihr, aber niemand sprach sie direkt an. Wovor hatte sie sich die ganze Zeit gefürchtet? Tat sie den Ragan vielleicht unrecht?

Genau wie in der vergangenen Nacht, zog es Marian vor, im Wohnraum zwischen den ganzen Kissen zu nächtigen. Froh war sie, dass es ihr Ragnar auch diesmal gewährte. Doch ihr Schlaf war alles andere als angenehm. Böse Träume plagten sie. Szenen, in denen ihr Vater und das Volk gemeuchelt wurden, quälten sie. Immer wieder sah sie in ihrem Traum den Eingang einer Höhle und zwei goldene Augen, die sie aus der Dunkelheit heraus ansahen. Die ihr fremde körperlose Stimme rief nach ihr. Schwächer als sonst. Wie aus weiter ferne und kaum noch wahrzunehmen. Dann träumte sie plötzlich von dem Ring ihrer Mutter. Sie erinnerte sich, wie sie ihn unter ihrem Bett versteckt hatte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er wichtig war. Aber dann sah sie wieder ihren Vater, wie er getötet wurde. Immer wieder auf ein neues und jedes Mal grausamer als zuvor. Die Tränen kamen ihr, sie wimmerte und schluchzte im Schlaf. Doch dann drang ein Flüstern zu ihr durch, ganz sanft. Es hatte eine beruhigende Wirkung. Die Träume schwanden und als sie erwachte, glaubte sie, gefangen in Müdigkeit, zu spüren, wie ihr jemand durch das Haar streichelte. Sie wusste, es konnte nicht Ragnar sein. Die Hand war klein, aber sehr tröstend. Bevor sie überhaupt daran denken konnte, ihre Lider zu heben, war sie wieder eingeschlafen.


Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt