Kapitel 56

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Lucian schlotterten noch immer die Knie, während er die Fesseln der Gefangenen löste und daran dachte, dass er kurz davor gestanden hatte, seinen besten Freund zu verlieren. Froh war er nun, dass Henry seinen Hass rechtzeitig unter Kontrolle und die Chance erkannt hatte, die ihm von Ragnar angeboten worden war. Doch das hieß nicht, dass zwischen ihnen Frieden herrschte. Im Kerker wurde es immer lauter, da die befreiten Männer ziemlich empört waren, als sie erkannten, dass sie von den Ragans gerettet wurden und sie weigerten sich Dankbarkeit zu zeigen. Henry aber war geschickt darin, auf seine Männer einzureden und schließlich sahen diese ein, dass es dumm wäre, diese Chance nicht zu nutzen und dass ihr angeknackster Stolz an dieser Stelle unangebracht sei.
Allerdings strafte der Alte seinen eigenen Worten bald schon Lügen, denn er ließ es sich nicht nehmen immer wieder gegen Ragnar zu sticheln. Er benahm sich wie ein trotziges Kind, das sich mit dieser Situation nicht abfinden wollte, aber im Grunde wusste, dass er im Unrecht war. Nachdem Lucian den letzten Gefangenen befreit hatte, gesellte er sich an die Seite seines Freundes, der sich erstaunlich ruhig von allen Seiten mit Beschimpfungen traktieren ließ. Allerdings sah Lucian, dass die Augenlider seines Freundes zuckten und seine Geduld ziemlich auf die Probe gestellt wurde. Es fiel Ragnar schwer, doch er duldete die Frechheiten, weil er genau wusste, dass diese Leute seiner Frau am Herzen lagen. Lucian war sich jedoch sicher, dass Marian sich in diesem Moment auf die Seite ihres Mannes gestellt und solch ein Benehmen nicht geduldet hätte.
"Es reicht jetzt. Ihr solltet euch lieber daran machen zu fliehen, als diesen Mist von euch zu geben", fuhr Lucian die umstehenden an, als diese mit ihren Ausrufen für seinen Geschmack zu weit gingen und sein Freund es nicht verdient hatte, als die missglückte Geburt eines Wildschweines betitelt zu werden.
"Wir sollen Fliehen, soll das ein Witz sein?", fragte Henry.
"Ganz und gar nicht. Er meint es ernst. Flieht und geht zu eurer Tochter. Im Moment ist unklar ob wir diesen Kampf gewinnen können", antwortete Ragnar.
"Warum sollte ich in Schande zu ihr gehen? Ich will, dass ihr mir ein Schwert gebt", zischte der Alte und seine Männer nickten zustimmend.
"Wie bitte?", fragte Ragnar.
"Ein Schwert will ich haben", schnauzte Henry.
"Das habe ich schon verstanden, aber was wollt ihr damit?".
"Euch töten?", fragte Henry spottend.
"Diese Chance habt ihr bereits verstreichen lassen, eine weitere bekommt ihr nicht".
"Ist ja gut. Ich will Kämpfen, du Hornochse. Du glaubst doch nicht, dass ich meinem Kampf von euch fechten lasse? Ha, ihr dürft euch lediglich damit brüsten unsere Ketten gelöst zu haben", rief Henry und erneut nickten seine Männer zustimmend. Ragnar und Lucian warfen sich einen kurzen Blick zu. Dass diese Männer, die viele Wochen in den Zellen verbracht hatten, den Kampf einer Flucht vorzogen, überraschte sie.
"Könnt ihr überhaupt ein Schwert führen in eurem Zustand?", fragte Lucian.
"Gebt mir eines und ich beweise es dir", grollte Henry und blickte ihn bitterböse an.
"Ich hätte euch schneller enthauptet als ihr gucken könnt", erwiderte Lucian, dem die unterschwellige Morddrohung natürlich nicht entgangen war.
"Das reicht jetzt. An dieser Stelle sollten sich unsere Wege trennen, bevor wir uns die Köpfe einschlagen. Ich würde euch raten zu fliehen, doch wenn ihr Kämpfen wollt, werde ich euch nicht aufhalten. Ihr wisst sicherlich noch, wo hier die Waffenkammern sind", meinte Ragnar, zog sein Schwert und eilte davon. Er hatte seine Männer lange genug alleine gelassen, es wurde Zeit, dass er sich an der Schlacht beteiligte. Alle sahen ihm nach. Schließlich räusperte sich Lucian übertrieben und zog seine beiden Äxte.
"Wenn ihr nicht wollt, dass ich einen von euch auf dem Schlachtfeld erschlage, markiert euch. Rot ist unsere Farbe", rief er und hechtete dann seinem Freund hinterher.
"Ihr hättet ihn erdolchen sollen", knurrte Adrian seinem Herrn zu.
"Was nicht ist, kann noch werden. Bevor ich ihm eine klinge in sein verdammtes Herz ramme, will ich erst mit meiner Tochter sprechen", erwiderte Henry und lief davon. Seine treuen Männer folgten ihm ohne zu zögern. Wie eine Herde scheues Wild, das erstmals eine offene unsichere Lichtung sah, betraten die Männer kurz darauf die Eingangshalle. Ihre Herzen pumpten schnell und kaum einer von ihnen, hätte gedacht, die dunklen Kerker jemals wieder zu verlassen. Tränen der Freude rannen den Männern über die Wangen und sie schnieften wie kleine Kinder. Die Freiheit war zum Greifen nahe, doch das Schwerter klirren von draußen, das nun deutlich zu vernehmen war, ließ sie alle wissen, dass es noch einen Kampf zu fechten gab. Entschlossen und berauscht von Adrenalin, machten sie sich auf den Weg zu den Waffenkammern. Kaum dass sie sich mit den Waffen ausgerüstet hatten, wurden ihre müden Glieder von neuen Kräften erfüllt. Der Durst nach Rache und die nahe Freiheit gab ihnen einen unglaublichen Energieschub.
"Reißt diesen elendigen Vorhang ab", befahl Henry, nachdem sie in die Eingangshalle zurückgekehrt waren. Sofort gehorchten ihm einige Männer und zerrten an dem besagten Vorhang, der eines der großen Fenster bedeckte und passend in den Farben des Blutes war.
"Reißt ihn in Fetzen", befahl Henry und der Vorhang wurde in mehrere Stücke gerissen.
"Markiert euch", rief der Lord und wickelte seinen Fetzen um den Griff seines Schwertes. Nachdem alle anderen dies auch getan hatten, blickten die Männer ihren Herrn abwartend an, der angestrengt dem Krach lauschte, der von draußen zu ihnen drang.
"Dies wird der Tag unserer Rache sein. Noch einmal gehen wir nicht in den Kerker. Entweder gewinnen oder sterben wir", rief Henry und seine Männer hoben nickend ihre Schwerter.
"Was ist mit den Ragan?", fragte Adrian.
"Nutzen wir das Chaos der Schlacht und erschlagen so viele wie möglich von ihnen", rief einer der Männer, aber Henry schüttelte verneinend den Kopf.
"Fürs erste, werdet ihr das nicht tun. So ungern ich dies auch sage. Es wäre unklug, wenn wir uns diesen Verbündeten direkt wieder zum Feinde machen, während der andere noch nicht einmal besiegt ist. Erst die Thorvaldssons, ... um die Ragan kümmern wir uns ein andern Mal", sagte er, wandte sich herum und rannte aus der Festung.

Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt