Kapitel 67

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Als Marian in die Eingangshalle eilte, standen viele Neugierige mit großen Augen an den Fenstern und spähten nach draußen. Sie ahnte, dass dort Arokh auf sie wartete. Sein Erscheinen sorgte für viel Unruhe, was aber nicht verwunderlich war. Inzwischen wussten zwar alle, dass der Drache ein Verbündeter war, aber solch ein Ungetüm war dennoch furchteinflößend. So schnell ihre Beine sie trugen, eilte Marian nach draußen.
Tatsächlich sah sie den Drachen sofort, er hatte sich nicht unweit der Festung niedergelassen. Er sah nicht gut aus, wie Marian feststellte. Seine Schuppen, die sonst die Farben des Feuers trugen, waren fast ergraut. Seine goldenen Augen waren trüb geworden. Arokh war dabei zu sterben, wenn man es denn so nennen konnte. Sie wusste, er würde nicht verloren sein, dennoch tat es weh. Zu wenig Zeit hatte sie mit dem Drachen gehabt und dennoch fühlte sie sich ihm verbunden.
"Wie lange wird es dauern, bis du dich in deinem Ei erholt hast?", fragte Marian sofort.
"Das ist schwer zu sagen. Es ist nie gleich. Ich kann in wenigen Tagen zum Schlüpfen bereit sein, vielleicht aber auch erst in einigen Jahren", antwortete Arokh.
"Und woran werde ich erkennen können, dass ich dich schlüpfen lassen kann?".
"Du wirst meine Stimme hören".
"Gut, ich werde voller Sehnsucht auf den Tag warten, Arokh. Du bist schon jetzt für mich ein guter Freund und ich kann es kaum erwarten, dich noch besser kennenzulernen", meinte Marian und sie bemerkte, wie ihr Mann neben sie trat. Als sie zu ihm sah, musste sie etwas schmunzeln, denn der Blick, mit dem er den Drachen bedachte, war voller Neugier, aber auch Furcht. Marian entdeckte auch ihren Vater und viele andere, die sich aber nicht näher heranwagten.
"Ich hatte noch nicht die Zeit, mich zu bedanken. Bin mir zwar sicher, dass wir das auch ohne dich gepackt hätten, aber dennoch danke", meinte Ragnar und sein ganzer Körper erschauderte, als Arokh ihm grollend zunickte.
"Euer Sohn wird ganz nach euch kommen", grollte Arokh.
"Mein Sohn?", fragte Ragnar und dann plötzlich wurden seine Augen ganz groß.
"Es wird ein Junge?", rief er und seine Stimme klang einige Oktaven höher vor Begeisterung.
"Na super, dann habe ich ja noch einen von dieser Sorte", nuschelte Marian kaum hörbar und Arokh, der dies als einziger, dank seiner guten Ohren hörte, lachte.
"Wenn alles gut läuft, wirst du irgendwann auch ein kleines Mädchen haben", ertönte das leise Flüstern des Drachens in ihrem Kopf. Marian strahlte über das ganze Gesicht, wissend, dass diese Worte nur an sie gerichtet waren. Arokh sah zu den anderen Menschen, die ein wenig näher gekommen waren. Die Neugier war deutlich größer als die Furcht.
"Du bist von guten Leuten umgeben, Marian", grollte der Drache leise, denn er konnte in den Herzen dieser Menschen, keinen Hass fühlen. Dann schloss Arokh seine Augen und er tat einen kräftigen Atemzug. Erschrocken mussten Marian und alle anderen ebenfalls ihre Augen schließen, da sich Arokh in einem gleißenden Licht auflöste. Als es erloschen war, mussten sie mehrmals blinzeln, um wieder sehen zu können. Ein Keuchen entfloh Marian, als sie anstatt des Drachens, nun ein Ei am Boden erblickte. Es war riesig, so groß wie ein Huhn. Rasch hob sie es vom Boden auf und war überrascht, wie schwer es war.
"Das würde ein gutes Frühstücksei abgeben", witzelte Lucian, der zu ihnen kam. Ragnar gab seinem Freund einen wuchtigen Schubs, sodass dieser davon taumelte, begleitet von Marians bösem Blick.
"Ich habe doch nur gescherzt", schimpfte Lucian. Ragnar gab ihm ein Handzeichen, in dem ihr so tat, als würde er sich mit dem Finger die Kehle durchschneiden. Sofort hab Lucian abwehrend die Hände und entschuldigte sich kleinlaut. Marian hielt das Ei behutsam an sich gedrückt und nahm sich vor, es mit allem, was sie hatte, zu beschützen.
"Was genau, ist da eigentlich gerade passiert?", fragte Henry und Marian wurde sich bewusst, dass sie lediglich Ragnar von ihrem Gespräch mit Arokh berichtet hatte und alle anderen unwissend waren. Rasch änderte sie dies und erklärte allen, was es mit dem Ei auf sich hat.

Sechs lange Monate zogen in das Land und es war eine Zeit, in der man den Frieden genoss. Viele neue Freundschaften waren entstanden, Liebe wurde gefunden und neue Familien gegründet.
In der Festung war endlich wieder Ordnung eingekehrt. Die meisten Einheimischen aus Greenhill, hatten ihre alten Häuser wieder bezogen.
Lord Huxley war mit seinem Gefolge vor einigen Wochen in sein eigenes Land zurückgekehrt und auch die meisten der Ragans waren in ihre Heimat gegangen. Man erwartete die Rückkehr einiger aber jederzeit zurück, gemeinsam mit den Kindern von Greenhill. Die Atmosphäre zwischen Henry und Ragnar hatte sich auch gebessert. Es war unverkennbar, dass beide sympathisierten, doch zugeben wollten sie es noch nicht wirklich und immer dann, wenn sie sich ertappt fühlten, begannen sie sich wieder gegenseitig aufzuziehen. In einem hielten sie aber fest zusammen, immer dann, wenn es darum ging, Marian mit ihrem neuen Spitznamen zu ärgern.
Kleine Kugel, - wurde sie oft gerufen, weil ihr Bauch enorm gerundet war. Inzwischen hatte sie wirklich Probleme beim Laufen und den anderen alltäglichen Dingen.
Doch sie bekam, wann immer sie es brauchte, aus allen Richtungen unterstützende Hilfe. Besonders von ihrem Mann, der teilweise ziemlich schlimm dabei war.
"Das gibt es doch nicht", schimpfte Henry und riss Marian aus ihren Gedanken. Er raufte sich das Haar und blickte fassungslos auf die Würfel vor ihm nieder.
"Du hast schon wieder gewonnen", schimpfte er und Marian grinste.
Am frühen Morgen hatte man in der Ferne nahende Schiffe der Ragans erspäht und Ragnar war zur Küste geritten, um seine Leute in Empfang zu nehmen. Marian vertrödelte sich die Zeit damit, indem sie ihrem Vater ein wenig Gesellschaft leistete und gerade eben hatte sie ihn zum fünften Mal in einem Würfelspiel besiegt.
"Das Würfeln war noch nie deine Stärke", neckte Marian.
"Was bist du, Königin der Würfel? Die Dinger sind doch gezinkt", schimpfte Henry.
"Wie kannst du deiner Tochter nur Betrug vorwerfen", meinte Marian gespielt empört.
"Soll ich ihn köpfen, Herrin?", fragte Lucian witzelnd, der mal wieder aus dem Nichts auftauchte.
"Pass auf, dass ich dich nicht köpfe", fauchte Henry sofort los.
"Lief alles gut?", fragte Marian den Rotschopf, denn sie wusste, er war mit ihrem Mann gegangen.
"Alles bestens. Die Kinder sind wohlauf und werden in diesen Moment bereits mit ihren Familien wieder vereint. Ich sollte dich wissen lassen, dass Fjorleif und Ivar ebenfalls gekommen sind. Die beiden hatten in den letzten Monaten auf heißen Kohlen gesessen und wollten es sich nicht nehmen lass euch wohlauf zu sehen. Ragnar schickte mich, um euch zu warnen, seine Mutter weiß von der Schwangerschaft nichts und es könnte sein, dass sie etwas die Fassung verliert, wenn sie euch sieht", antwortete Lucian und grinste bis über beide Ohren.
Marian klatschte freudig in die Hände. Sie konnte es kaum erwarten, die Ältere zu sehen und auch auf Ivar freute sie sich. Froh war sie, dass er überlebt hatte.
"Ich bin auch echt gespannt auf die Schrulle, die diesen Halunken geboren hat", meinte Henry, der schon einiges über Fjorleif erzählt bekommen hatte.
"Wie habt ihr sie genannt?", fragte Lucian und in seinen Augen blitzte es.
"Papa, ich bitte dich, wage es nicht, die Mutter meines Mannes zu beleidigen. Ich kann dich nicht schützen, wenn der Rotschopf dich töten will", mahnte Marian.
"Ich erlaube vieles, aber nicht, dass man meine beiden Herrinnen beleidigt", grummelte Lucian.
"Oh, dieser Dummkopf kann also auch mal ernst werden?", fragte Henry grinsend.
"Papa", mahnte Marian.
"Ist ja gut, tut mir leid", nuschelte Henry.
"Entschuldig angenommen", meinte Lucian und grinste sogleich wieder. Nur wenige Augenblicke später hörte man, dass es in der Eingangshalle lauter wurde. Dies war ein Zeichen, dass Ragnar zurück war und Marian wurde ganz aufgeregt.
"Was machst du denn da?", fragte sie, als sich Lucian vor sie stellte.
"Euch etwas abschirmen, ihr wollt ja nicht sofort überrannt werden, oder?", fragte er grinsend. Bevor Marian etwas darauf erwidern konnte, betrat Ragnar die Halle. Marian neigte sich so weit, dass sie an Lucian vorbei spähen konnte. Fjorleif hatte sich bei ihrem Sohn eingehakt und ihr Blick flog staunend umher. Sie sog jedes Detail dieses fremden Landes in sich auf. Hinter ihnen lief Ivar, er schien das blühende Leben zu sein. Marian konnte vor lauter Freude kaum an sich halten.
"Da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss, Mutter", meinte Ragnar, während er Fjorleif auf Lucian und die anderen zuführte. Doch da entdeckte seine Mutter bereits Marian, die hinter dem Rotschopf hervor spähte.
"Ah, da ist sie ja. Mein Kind, was bin ich froh, als ich erfuhr, dass man dich retten konnte", rief die Ältere unter Tränen und wollte sofort losstürmen. Ragnar hielt seine Mutter zurück.
"Warte, ich muss dir erst was sagen", meinte er.
"Schon gut, ich bin bereit für den Ansturm", meinte Marian lachend und erhob sich. Als sie hinter Lucian hervortrat, hörte man einen überraschten Ausruf von Ivar. Fjorleif starrte Marian mit großen Augen an und ihr Mund stand weit offen. Man sah es auf den ersten Blick, so rund wie Marian geworden war, konnte man die Schwangerschaft nicht verstecken. Henry sprang vor Schreck von seinem Sitz auf, als Fjorleif ein lautes freudiges Kreischen von sich gab.
"Endlich wurden meine Wünsche erhört", rief sie und eilte auf Marian zu.
"Nicht so stürmisch", rief Ragnar erschrocken, als sich seine Mutter gegen Marian warf und sie vor Freude heftig drückte.
"Oh bei allen Göttern, du bist so rund, dass ich dich nicht einmal richtig umarmen kann", meinte Fjorleif voller Begeisterung. Marian bekam mehrere Küsschen von ihr auf die Wangen gedrückt.
"Mutter, nun erdrücke sie doch nicht so", mahnte Ragnar.
Marian lachte vergnügt und teilte die Überschwänglichkeit von FJorleif. So glücklich war sie, die ältere wiederzusehen.
"Herz-Herz-Äh, Herzlichen Glückwunsch", stotterte Ivar. Marian löste sich von Fjorleif und eilte auf Ivar zur, um ihn ebenfalls zu umarmen. Ragnar löste die beiden jedoch schnell wieder und ermahnte seine Frau nicht zu rennen.
"Jetzt nerve mich doch nicht so mit deiner Fürsorge", zischte Marian ihn an. Das schallende Gelächter von Henry lenkte die Aufmerksamkeit aller auf ihn. Er empfand dieses heillose Durcheinander eines Wiedersehens wohl als sehr lustig.
"Wenn ich vorstellen darf, das ist mein Vater", meinte Marian an Fjorleif gewandt, diese nickte und wandte sich direkt an den Herrn des Landes. Henry machte große Augen als sie vor ihn knickste.
"Freut mich euch kennenzulernen, ich bin Fjorleif, die Mutter von Ragnar", sagte sie.
"Die Freude ist ganz meinerseits, ich bin wirklich erleichtert, denn ich erwartete eine Schru...",- ein Knurren von Lucian ließ Henry kurz stocken.
"... ich meine, ich wusste nicht, was mich erwartet. Bitte habt ein nachsehen, nach alldem was geschehen ist. Sie sehen mir ziemlich anständig aus, daher Willkommen in Greenhill", endete er und wechselte dabei einen kurzen Blick mit dem Rotschopf.
"Ich bin überwältigt. Mein Sohn erzählte mir alles, auch das über den Drachen, aber dass er Vater wird, hat er mir verheimlicht", meinte Fjorleif und warf ihrem Sohn kurz einen bösen Blick zu.
"Und ich kann kaum glauben, dass eine Schönheit wie sie, solch ein Monstrum geboren hat", sagte Henry und zeigte auf Ragnar.
"PAPA", keifte Marian ihn sofort an.
"Tschuldigung", murmelte er.
"Schon gut, Marian, mein Sohn warnte mich vor", sagte Fjorleif. Marian seufzte schwer und hakte sich bei der Älteren ein.
"In Wahrheit mögen sich die beiden, aber das Sprichwort, was sich liebt, das neckt sich, passt bei ihnen wie die Faust auf das Auge. Aber egal, ärgern wir uns nicht, komm, ich zeige dir die Festung", sagte Marian und zog die Ältere davon.
"Ich würde gerne das Drachenei sehen", meinte Fjorleif und Marian nickte.
"Ich mag ihn nicht, damit das klar ist", rief Henry ihnen hinterher.
"Schade, ich finde sie nämlich ziemlich sympathisch", meinte Ragnar und folgte den beiden Frauen. Verdutzt sah Henry ihnen hinterher.


Der Ragan Clan (1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt