Kapitel 65

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Nachdem Arokh sich an Halvdan gelabt hatte, war er davongeflogen. Marian war erschrocken und verstand nicht, wieso er einfach abhaute, ohne etwas zu sagen. Doch dann realisierte sie, wie sich die Überlebenden näherten. Vorher hatten sie sich nicht herangewagt und vermutlich war Arokh gegangen, um den Menschen die Zeit zu geben, sich über ihren Sieg zu freuen. Zumindest redete sich Marian dies ein und hoffte, dass der Drache bald zurückkehren würde.
Schwer seufzte sie, ehe sie sich wieder zu ihrem Mann wandte, der einigen seinen Männern gerade die Befehle gab, nach Verletzten zu suchen und mögliche noch lebende Feinde auf der Stelle zu töten. Gefangene wollte er keine machen, da kannte Ragnar kein Erbarmen. Marian sah sich kurz um und bezweifelte, dass ihre Feinde überlebt hatten. Wenn doch, dann nur, weil ihnen die Flucht gelungen war. Erneut seufzte sie schwer, ehe sie sich erschöpft gegen ihren Mann schmiegte. Er legte sogleich einen Arm um ihren Leib, während er weiter Befehle erteilte.
Henry bedachte die beiden mit finsterem Blick, während sein Freund Huxley energisch auf ihn einflüsterte.
"Jetzt halt doch mal deine verdammte ...", schrie der alte Callahan plötzlich los, stockte aber, als der bewusstlose Lucian nicht unweit von ihnen, plötzlich mit einem Schrei erwachte und sich panisch auf dem Schlachtfeld umsah. Ragnar gab seiner Frau einen sanften Kuss auf ihre Stirn, ehe er sich von ihr löste und zu seinem Freund eilte.
Der arme Lucian schien ein ziemliches Trauma erlitten zu haben, zumindest erkannte er seinen Freund vor lauter Panik nicht und verpasste ihm einen wuchtigen Kinnhaken. Henry begann sofort schadenfroh zu lachen, während Marian ganz erschrocken war. Lucian konnte von Glück reden, dass Ragnar etwas Nachsicht mit ihm hatte, ansonsten hätte er den Schlag sicherlich schnell bereut. Der Herr der Ragan nahm den Rotschopf in den Schwitzkasten und hielt ihn darin so lange gefangen, bis er sich beruhigte und endlich realisierte, dass die Schlacht vorüber war und keine Gefahr mehr bestand. Lucian nuschelte etwas Unverständliches und Ragnar gab ihn mit einem Grinsen frei.
"Was bei allen Göttern ist passiert?", wollte Lucian dann wissen. Ragnar berichtete ihm in kurzen und knappen Erklärungen das wichtigste und der Blick des Rotschopfes war wirklich herrlich, als er hörte, dass sie einen sprechenden Drachen als Verbündeten hatten. Marian beobachtete die beiden Männer mit einem Lächeln, ehe sie sich an ihren Vater wandte.
"Wir haben es geschafft, wir sind wieder frei", sagte sie und während ihr die Tränen kamen, warf sie sich in seine Arme. Sie spürte, wie ihr Vater sie sanft tätschelte.
"Könntet ihr mal aufhören zu weinen, sonst mache ich auch gleich noch mit", meinte Huxley und schniefte. Marian hob ihren Kopf und erkannte, dass ihrem Vater ebenso die Tränen liefen. Die Erleichterung, die sie alle spürten, war groß und kaum in Worte zu fassen. Doch noch gewaltiger war die Erschöpfung. Marian spürte sie plötzlich so sehr, dass es sie regelrecht von den Füßen riss. Sie sackte in den Armen ihres Vaters zusammen, versicherte ihm aber sofort, dass es ihr gut ginge. Bevor sich dieser davon überzeugen konnte, war Ragnar bei ihnen.
"Was du brauchst, mein Schatz, ist ein weiches Bett und einige Stunden Schlaf", sagte er und die Strenge in seinem Blick duldete keinen Widerspruch. Selbst ihr Vater, schien seiner Meinung zu sein, denn er nickte ihm zustimmend zu. Marian jedoch protestierte. Sie wollte nicht zu Bett gehen in all dem Chaos. Es gab so viel zu tun. Verletzte mussten behandelt und den Toten die letzte Ehre erwiesen werden.
"Darum musst du dich nicht kümmern", meinte Ragnar und hob sie auf seine Arme empor. Marian hatte nicht einmal mehr die Kraft, weiter mit ihm zu diskutieren. Während er sie davon trug, ärgerte sie sich, dass sie keine Hilfe sein konnte. Doch diese Gedanken begannen langsam zu verschwimmen und sie bemerkte nicht mehr, wie ihr Mann mit ihr die Festung betrat, denn sie war, ihren Kopf auf seinen Schultern gebettet eingeschlafen.

Als Marian erwachte, verspürte sie sogleich das Bedürfnis, ihre Glieder zu strecken. Das tat sie auch und bemerkte dabei, dass sie in einem weichen und warmen Bett lag. Sie erinnerte sich daran, wie Ragnar sie davongetragen hatte und ärgerte sich, dass sie wirklich eingeschlafen war.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie neben sich einen festen Körper ertastete. Rasch schlug sie ihre Augen auf und entdeckte ihren Mann. Ragnar war tief und fest am Schlafen. Hatte er sich zusammen mit ihr zur Ruhe gelegt? Oder war er später dazu gekommen? Prüfend musterte sie ihn und hob sogar die Bettdecke an. Er sah wirklich furchtbar aus. Verschwitzt war er und voller Blut. Rasch ging sie sicher, dass letzteres nicht ihm gehörte. Ihr Mann hatte zwar einige Verletzungen in der Schlacht davon getragen, aber keine davon würde sie als gefährlich erachten. Erleichtert war sie und froh, dass sie beide noch lebten. Behutsam deckte sie ihren Mann wieder zu.
"Ruh dich aus, mein Schatz", flüsterte sie und küsste seine Stirn, ehe sie das Bett verließ. Ihre Glieder fühlten sich steif an und schmerzten. Die letzten Tage und Wochen waren alles andere als ruhig gewesen und es würde vermutlich noch weitere Tage brauchen, bis sie die Strapazen nicht mehr in ihren Knochen spürte. Mit einem Seufzen sah sie an sich hinab und bemerkte, dass sie genauso schrecklich aussah wie ihr Mann. Die Bettwäsche würden sie definitiv reinigen müssen und so bald wie möglich würde ihnen ein Bad guttun. Mit diesen Gedanken sah Marian sich um und realisierte erst jetzt, dass es ihr altes Gemach war. Rasch eilte sie zum Fenster und spähte hinaus. Was sie sah, hatte sie nicht erwartet. Ein seichter Nebel schwebte über dem Erdreich und offensichtlich war erst vor wenigen Minuten eine neue Sonne aufgegangen. Das erschreckte sie, denn das bedeutete sie hatte einen ganzen Tag und eine Nacht durchgeschlafen. Offensichtlich hatte man sich bereits um die Verletzten und Toten gekümmert, denn das Feld war geräumt. Das Einzige, was Marian sah, waren hier und dort einige Stellen von verbranntem Gras. Froh war sie, die Leichen nicht sehen zu müssen, dennoch fragte sie sich, wie viele Opfer es wohl gegeben hatte. Ihre Augen weiteten sich als sie im Nebel plötzlich die gewaltige Gestalt von Arokh entdeckte. Sogleich wandte sie sich vom Fenster ab, ging sicher, dass ihr Mann noch immer schlief und eilte dann aus dem Gemach. Draußen verlangsamten sich ihre Schritte, denn überall im Flur lagen Menschen und schliefen den Schlaf der Erschöpften.
Die meisten Türen der Zimmer standen offen und Marian erkannte, dass man die Betten den Verletzten überlassen hatte. Sie erschauderte, denn viele, die sie in den Betten erspähte, waren mit Bandagen bedeckt. Einem fehlte sogar das halbe Bein. Marian versuchte lieber nicht darüber nachzudenken, wie er es verloren haben könnte. Eines war jedoch sicher, der Krieg war stets grausam. Als Marian in die große Eingangshalle gelangte, lagen auch dort viele und schliefen. Es waren einfach nicht genug Zimmer und Betten da für alle.
"Sie alle haben ihren Schlaf verdient", dachte Marian und eilte dann hinaus. Der Atem stockte ihr, denn sie hatte nicht erwartet, dass es so frisch war. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Leib und eilte zu Arokh. Der Drache hatte sich nicht unweit der Festung niedergelassen und schien auf sie gewartet zu haben.
"Ich habe schon befürchtet, dass du verschwunden wärest", gab sie zu, als sie ihn erreichte.
"Es wird dauern, bis die Menschen sich an mich gewöhnen. Ich ging, um euch die nötige Ruhe zu gönnen und meine Freiheit zu genießen", sagte Arokh und Marian erkannte, dass er wieder in ihrem Kopf sprach. Man merkte es sofort, denn seine Stimme klang dann fast wie ein Echo.
"Wirst du bei uns bleiben?", fragte Marian.
"Ich würde gerne, doch meine Zeit ist begrenzt".
"Was meinst du damit?".
"Die Höhle war nicht nur ein Gefängnis, sie hat mich auch am Leben erhalten. Mein jetziger Körper wird nicht mehr lange halten können", antwortete der Drache und Marian erschrak.
"Willst du damit sagen, du stirbst?", rief sie.
"Nein, ein Drache stirbt nicht Marian, nur sein Körper schwindet. Wir bestehen aus purer Magie und beginnt diese zu schwinden, kehren wir in unsere Urform zurück, um sie zu generieren".
"Eure Urform?".
"Das Ei", erklärte er.
"Du willst mir also sagen, dass du bald wieder zu einem Ei wirst?", fragte sie und Arokh nickte.
"Ich verstehe das zwar nicht wirklich, aber ich verspreche, dass ich gut auf dein Ei aufpassen werde", versprach Marian.
"Sollte meine Vision eintreffen, wirst du das nicht können. Doch sei deswegen nicht besorgt, denn diese Möglichkeit, gehört zu der guten und wir werden wieder zusammenfinden", sagte Arokh und Marian runzelte verwirrt ihre Stirn.
"Du sprichst wunderlich, Arokh, wie genau meinst du das?".
"Die Zukunft ist etwas, was nicht fest geschrieben steht, wir Drachen können die verschiedenen Variablen von ihr in unseren Träumen sehen. Einst gab es auch die Zukunftsmöglichkeit, dass du stirbst, bevor deine und Ragnars Wege sich kreuzen konnten. Wenn dies geschehen wäre, würde ich noch immer unter dem Fluch leiden und Ragnar wäre hinterhältig von Halvdan ermordet worden. So wie es jetzt gekommen ist, war es die bessere Variable, auch wenn sie mehr Opfer forderte", sprach Arokh und Marian sah ihn erstaunt an.
"Ich verstehe das zwar nicht so ganz, aber du willst mir wohl sagen, dass die Möglichkeit besteht, dass ich dein Ei verliere, ich mir darum aber keine Sorgen machen soll, weil es eine gute Variable ist?", fragte Marian verdutzt.
"Genauso ist es. Dieser Krieg wird nicht der letzte sein, Marian. Du wirst mich zuerst loslassen müssen, um in der Lage zu sein, reichlich Verbündete zu finden", sagte Arokh und das verwirrte Marian nur noch mehr. Sie wollte keinen Krieg mehr und wozu brauchte sie noch Verbündete?
"Ich hoffe sehr, dass diese eine Zukunft, die ich sah, eintreten wird. Sie bringt zwar auch Grauen und Unheil, doch sie wird dafür sorgen, dass die Zeit von meinesgleichen von vorne beginnen wird", sagte Arokh und Marian erschauderte.
"Es gibt noch mehr Drachen dort draußen?", fragte sie.
"Natürlich, es gibt hunderte von uns. Doch sie alle ruhen noch in ihren Eiern. Ohne Hilfe werden sie nicht aus ihnen schlüpfen können. Es bedarf einer gewissen Macht, damit ein Drache sein Ei verlassen kann", erklärte Arokh.
"Und was für eine Macht wäre das?", fragte Marian.
"Hast du denn schon unser Gespräch in der Höhle vergessen?", fragte er und sie dachte nach. Dann erinnerte sie sich, dass sie schon einmal über die Eier gesprochen hatten. Schon in der Höhle hatte Arokh erwähnt, dass seine Zeit begrenzt war.
"Du sagtest nur eine Hexe, kann ein Ei zum Schlüpfen bringen".
"Ganz genau, es bedarf eines kleinen Tropfens ihres Blutes, damit ein Drache schlüpfen kann", sagte er und Marian fühlte sich nicht ganz wohl dabei, daran erinnert zu werden, dass sie von Hexen abstammte. Arokh lachte leise und spähte zur Festung.
"Vielleicht solltest du nun zurückkehren. Dein Mann ist erwacht und außer sich, dass du nicht bei ihm im Bett liegst", sagte Arokh und Marian erschrak.
"Oje, dann sollte ich wohl wirklich schnell zurückgehen. Reden wir später weiter?", fragte sie.
"Wer weiß, wir werden sehen. Doch spurte dich jetzt, wenn du nicht willst, dass er alle aus dem Schlaf reißt, weil er Amok läuft", grollte Arokh, ehe er seine Flügel spreizte und davonflog. Marian klapperte mit ihren Zähnen, denn der Wind, den er dabei erzeugte, verstärkte die Kälte. Kurz sah sie dem entschwindenden Drachen nach, ehe sie hastig zur Festung zurückeilte. Sie eilte so leise wie möglich an den vielen Schlafenden vorbei und stürzte kurz darauf in ihr Gemach. Ragnar war tatsächlich erwacht und blickte ihr mit eisigem Blick entgegen.
"Wo warst du?", keifte er sie an.
"Frische Luft schnappen?".
Er hob eine seiner Augenbrauen in die Höhe, denn ihre Antwort war mehr eine Frage und bezeugte ihm, dass sie nicht die Wahrheit sagte.
"Selbst wenn ich schlafe, rennst du mir davon", knurrte er. Marian schmunzelte, schloss rasch die Tür und eilte dann zu ihm.
"Ich war bei Arokh und habe mit ihm geredet, ich werde dir sicherlich nicht davonrennen", sagte sie und schmiegte sich an ihn.
"Ich habe immer das Gefühl, wenn du nicht bei mir bist, dass ich mir Sorgen machen muss", gestand Ragnar.
"Das musst du nicht", versicherte Marian ihm. Er sah sie zweifelnd an, ließ die Sache aber schließlich auf sich beruhen und legte sich mit ihr zusammen wieder in das Bett. Er hielt sie fest in seinen Armen, während Marian ihm erzählte, was Arokh ihr berichtet hatte.
"Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass es eine mögliche Zukunft gibt, in dem hunderte von Drachen existieren", meinte Ragnar.
"Wenn sie alle wie Arokh sind, dann würde ich mich sehr um diese Zukunft freuen", sagte Marian.
"Wieso vertraust du diesem Drachen so sehr?", wollte Ragnar wissen.
"Ich weiß nicht warum, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich ihn nicht fürchten muss", antwortete sie und Ragnar seufzte schwer.
"Hast du eigentlich eine Ahnung, wie entsetzt ich war, als ich dich mit dem Drachen sah?"
"Das tut mir leid, aber was glaubst du denn, welche Furcht ich hatte, als ich Arokh im Dunklen einer Höhle begegnete. Ich dachte, er würde mich fressen", sagte Marian.
"Dann hätte ich ihn getötet", knurrte Ragnar.
"Ha, wenn ich mich Recht entsinne, hattest du große Angst vor ihm".
"Zieh mich jetzt nicht damit auf, was erwartest du denn, das Vieh ist riesig, hat Klauen und kann Feuer spucken. Ich bin nicht allmächtig", schimpfte Ragnar.
"Und dennoch hättest du gegen ihn gekämpft?".
"Natürlich".
"Dann können wir ja froh sein, dass er unser Freund ist".
"Das Wort Freund wäre mir zu weit hergeholt, ich werde dieser Kreatur mit großer Vorsicht begegnen", murmelte Ragnar und machte damit deutlich, dass ihm Arokh nicht geheuer war. Marian richtete sich im Bett auf und streckte sich.
"Ich weiß nicht genau, wie viel Schlaf du hattest, aber wenn mein Schatz genug Energie gesammelt hat, würde ich vorschlagen, dass wir uns ein Bad nehmen, uns umziehen und dann draußen, nachdem rechten schauen", meinte Marian und in den Augen ihres Mannes funkelte es, als er sich mit einem grinsend aufrichtete.
"Oh, ich habe genug Energie in mir, um dafür zu sorgen, dass du dieses gemeinsame Bad niemals mehr vergessen wirst", sagte er und Marian errötete.



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