Kapitel 55

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Ragnar war nicht sonderlich über die Tatsache verwundert, dass im Inneren der Festung niemand seinen Weg kreuzte. Die Männer waren natürlich allesamt zur Schlacht geeilt und man sah, dass alles in großer Eile stehen und liegen gelassen worden war. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, ja, es war eindeutig, dass keiner von ihnen mit diesem Angriff gerechnet hatte. Da er weit und breit auch keine der Frauen erblicken konnte, deutete dies daraufhin, dass Ashildr bereits ihr Bestes getan hatte, um die Frauen in Sicherheit zu bringen. Das war gut für ihn und seinen Freund, denn so konnten sie sich ungehindert zu den Kerkern aufmachen.
"Hätte nicht gedacht, dass ich diesen stinkenden Kerker einmal betrete, um den alten Sack zu retten", murmelte Ragnar mit einem Kopfschütteln, während er mit Lucian die Treppe hinabstieg. Der Rotschopf lachte.
"Das hätte der Alte gewiss auch nie von dir gedacht. Keiner vermutlich", sagte er und Ragnar grummelte etwas Unverständliches. Als sie den langen Kerkergang endlich erreichten, hielten sie inne. Hier unten war nichts von dem Lärm der Schlacht zu hören. Die Gefangenen waren nichts ahnend und vegetierten weiterhin in ihren Zellen dahin. Lucian rümpfte seine Nase, er war einige üble Gerüche gewohnt, aber der Duft dieses Ganges war selbst für ihn zu viel. Doch er lief weiter als Ragnar es tat. Einige der Gefangenen erhoben sich, als sie den beiden gewahr wurden. Böse und wüste Beschimpfungen flogen ihnen entgegen. Ragnar blieb ruhig und besah sich die Männer. Er erkannte, dass deren Zustand zwar alles andere als gut war, aber deutlich besser zu sein schien als bei seinem letzten Besuch. Sie schienen genügend Nahrung erhalten zu haben, um nicht den Hungertod sterben zu müssen. Das sah Halvdan jedoch gar nicht ähnlich. Seine Gefangenen lebten nie lange. Wenn er kein Exempel an ihnen verübte, ließ er sie meistens einfach in ihren Zellen verrecken. Dass dies hier nicht der Fall war, lag wohl einzig und allein an dem Fluch. Durch ihn, hatte Halvdan erkannt, dass er Henry lebend brauchte und vermutlich hatte er im Austausch für Informationen keine andere Wahl gehabt als auch die anderen Gefangenen am Leben zu lassen. Doch würden diese Männer genügend Kraft in ihren Gliedern haben, um eine Flucht anzustreben oder gar sich am Kampf zu beteiligen? Ragnar bezweifelte es und vermutlich wäre es klüger, die Befreiung auf nachdem Sieg zu verschieben, aber er wollte diese Sache hier und jetzt geklärt haben. Wenn er im Kampf fiel, würde er mit dem Wissen sterben, dass Marian wenigstens noch ihren Vater hatte. Ragnar löste sich aus diesem Gedanken, als er dem Blick eines Mannes begegnete, der ihn eindeutig herausforderte.
"Hätte nicht gedacht, dass ihr euch noch einmal hierher traut", spottete der Mann.
"Ich wüsste nicht, dass wir uns kennen", erwiderte Ragnar kühl.
"Tun wir auch nicht, wer will euch schon kennen? Ihr seid Abschaum", rief der Mann und spuckte ihm vor die Füße. Ragnar ballte seine Fäuste, blieb aber ruhig.
"Stimmt es? Habt ihr unsere Herrin geheiratet? Sie hätte sich niemals auf ein Schwein wie euch eingelassen. Welche Zauber habt ihr genutzt, um sie zu blenden?", fragte der Mann und rüttelte zornig an den Gitterstäben. Ragnar setzte ein breites Grinsen auf.
"Ich habe den mächtigsten Zauber genutzt, den es gibt. Einen, den nicht einmal euer Hass brechen kann", antwortete er und lief weiter. Das wütende Geschimpfe des Mannes verfolgte ihn.
"Warte hier", befahl Ragnar seinem rothaarigen Freund, als sie die Zelle von Henry erreichten. Lucian nickte und positionierte sich so, dass er es sofort sah, wenn jemand den Gang betreten würde. Ragnar musste sich eingestehen, dass er ziemlich Nervös war, als er die Zelle betrat und Henry erblickte. Der alte hing schlafend in seinen Fesseln, – oder war er bewusstlos?
"Aufwachen", rief Ragnar, doch der Alte rührte sich nicht. Ragnar trat näher an ihn heran und musterte ihn genauer. Gut sah Henry nicht aus, aber die Krankheit die ihn damals befallen hatte, schien ihn nicht mehr zu peinigen.
"Wach auf", zischte Ragnar und stupste den Alten ziemlich unsanft an. Ein Grunzen entfuhr dem schlafenden, doch es schien nicht genügt zu haben, um ihn zu wecken.
"Nun wach endlich auf, du alter Saftsack", entfuhr es Ragnar ungeduldig und der Alte schreckte tatsächlich aus dem Schlaf empor. Sichtlich verwirrt und schlaftrunken war er. Doch als Henry sein Gegenüber erkannte, verzog sich sein bärtiges Gesicht zu einer wütenden Fratze. Der Hass schien ihm mit purer Energie zu erfüllen.
"DU", brüllte er und stemmte sich mit roher Gewalt gegen die Ketten. Ragnar wich etwas zurück, so weit, dass er sich sicher war aus der Reichweite der Ketten zu sein. Henry knurrte wie ein wildes Tier und noch nie zuvor in seinem Leben war Ragnar so schlimm beschimpft worden, wie in diesem Augenblick. Dem alten entfleuchten unzählige Beleidigungen und Flüche.
"Soll ich ihm die Zunge hinaus schneiden?", hörte man Lucian fragen. Ragnar ignorierte seinen Freund und wartete, bis sich Henry etwas beruhigt hatte. Es dauerte eine gute Minute, bis die Kräfte den Alten wieder zu verlassen schienen.
"Bist du hier, um mich zu verspotten? Wirst du mein Henker sein?", fragte Henry.
"Nein, ich bin dein Retter", antwortete Ragnar.
"Retter? Dass ich nicht lache, du Bastard hast meine Tochter entehrt und ihr eingeredet, sie würde dich elendigen Schweinehund lieben", brüllte Henry.
"Ich gestehe, ich kann ein Bastard sein. Doch was eure Tochter betrifft, seid ihr im Irrtum. Sie liebt mich aus freien Stücken".
"Das würde sie niemals tun", schrie Henry außer sich vor Wut.
"Offensichtlich scheint ihr eure eigene Tochter nicht sonderlich gut zu kennen. Habt ihr eigentlich eine Ahnung wie mutig und Tapfer sie ist? Wisst ihr, dass sie einem jeden letzten Nerv rauben kann und ihr Dickkopf der größte ist, den diese Welt jemals gesehen hat?", fragte Ragnar und die Augen von Henry weiteten sich für einen kurzen Moment.
"Das alles weiß ich nur zu gut", murmelte der Alte dann kaum hörbar, ehe sich im nächsten Moment seine Nasenflügel blähten, als er die zuvor eingeatmete Luft zornig austieß. Erneut entfloh ihm nun eine wilde Schimpf Flut, die Ragnar gelassen über sich ergehen ließ.
"Habt ihr eurem Zorn endlich freien lauf gelassen?", fragte Ragnar, nachdem der Alte still wurde.
"Könnten wir nun endlich über wichtigere Dinge sprechen als darüber, was für ein Bastard ich doch bin?", wollte Ragnar wissen, als der Alte nur wütend geschnaubt hatte.
"Was sollte ich schon mit euch zu besprechen haben?", fragte Henry.
"Ich denke nicht, dass ihr sonderlich schwer im Kopf seid. Ihr wisst, dass Halvdan und ich keine Freunde sind. Warum glaubt ihr also, bin ich hier? Sicherlich nicht, um mit meinem Erzfeind ein Stück sahnigen Kuchen zu essen", meinte Ragnar und Henry stutzte. Die Stirn des älteren legte sich in tiefe Falten.
"Als erstes, solltet ihr wissen, dass eure Tochter in Sicherheit ist. Im Moment befindet sie sich in der Festung von Lord Huxley", meinte Ragnar und die Augen des Alten weiteten sich.
"Euer Freund Huxley scheint mir jedoch der Klügere von euch beiden zu sein. Schon bald wird er hier sein. Natürlich kommt er, um euch zu befreien, aber auch, um an meiner Seite zu kämpfen", sprach Ragnar und Henry schnappte erschrocken nach Atem.
"Mit euch kämpfen, warum?".
"Dort oben tobt gerade eine blutige Schlacht. Hunderte meiner Männer sind in den Kampf gezogen, nicht nur für ihre Rache an den Thorvaldsson, sondern auch für Marian, – und für euch. Ihr solltet es daher unterlassen, einen von uns, noch einmal als ein Bastard zu betiteln. Wenn ihr Klug seid, erkennt ihr eure Lage und die Chance, die ich euch gerade anbieten will. Ich bin hier, um euch zu befreien Callahan", sagte Ragnar und der Mund des Alten klappte weit auf. Er schien seinen Kiefer vor Schreck nicht mehr unter Kontrolle zu haben.
"Ich kann und werde euch nicht vertrauen", sagte Henry schließlich.
"Gut, dann lasst ihr mir keine andere Wahl", seufzte Ragnar und zog einen Dolch. Henry wurde Kreidebleich und war sich sicher, dass er nun getötet wurde. Doch Ragnar winkte einen rothaarigen Mann herbei und befahl ihm, die Ketten zu lösen. Henry rührte sich nicht und ließ den Dolch nicht aus den Augen. Doch dann klirrten die Ketten und er spürte, wie die fesseln sich von ihm lösten. Überrascht erhob er sich und taumelte dabei etwas. Im nächsten Moment hielt Ragnar ihm den Dolch entgegen.
"Hier, tötet mich wenn ihr wollt. Um euch zu beweisen, dass ich die Wahrheit sage, werde ich mich nicht gegen euch wehren. Doch lasst euch gewarnt sein, tut ihr es, werdet ihr das Herz eurer Tochter brechen", sagte Ragnar und Henry sah ihn mit großen Augen an.
"Bist du verrückt geworden?", keuchte der Rothaarige. Henry lachte schallend und zögerte nicht, den Dolch an sich zu nehmen. Die kleine Klinge in seinen Händen erfüllte ihn mit Kampfeslust. Spöttisch sah er Ragnar an und überlegte, an welche Stelle seines Körpers er die Klinge rammen sollte. Es wäre schön, wenn es nicht sofort tödlich wäre und der Bastard leiden musste.
"Worauf wartet ihr noch, wir haben nicht viel Zeit", drängte Ragnar.
"Ich sehe die Furcht in euren Augen", spottete Henry.
"Das einzige, was mir Angst machen kann, ist meine Frau zu verlieren", erwiderte Ragnar und ein wilder Fluch von Henry ertönte.
"Hört auf, sie so zu nennen", schrie er.
"Wie denn, meine Frau? Aber genau das ist sie".
"Ich werde sie euch nicht überlassen", kreischte Henry.
"Ich bin auch nicht hier, um euren Segen zu erhalten".
"Dann fahrt zur Hölle", rief Henry und holte mit dem Dolch aus. Doch bevor die Klinge sein Ziel erreichen konnte, hatte er vor seinem inneren Auge die Vision, wie seine Tochter ihn unter Tränen ansah, ehe sie ihm mit gebrochenen Herzen ihren Rücken zuwandte. Dieses Bild entsetzte ihn so sehr, dass die Klinge kurz vor Ragnar stoppte. Schwer atmete Henry, ehe er den Dolch mit einem wilden Fluch von sich warf.
"Ich werde euch nicht töten und die Chance, die ihr bietet, ergreifen. Aber was meine Tochter betrifft, so werde ich sie euch nicht überlassen", flüsterte Henry nach einigen Augenblicken der Stille. Von ihm unbemerkt atmeten Lucian und Ragnar auf. Dass ersterer beinahe einen Herzinfarkt und letzterer für einen Moment mit seinem Leben abgeschlossen hatte, war dem Alten nicht wirklich bewusst.
"Das war eine weise Entscheidung", sagte Ragnar.
"Lasst mich das nicht bereuen", grollte Henry.


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